Herr Mohr, welche Bedeutung haben die MERCOSUR-Staaten aktuell für die deutsche Ernährungswirtschaft?
Roland Mohr: Brasilien ist in der deutschen Ernährungswirtschaft präsenter, als man auf den ersten „Geschmack“ vermuten möchte. Das Land ist ein bedeutender Lieferant von Agrarrohstoffen, die in der deutschen Landwirtschaft und Ernährungsindustrie stark nachgefragt sind und vor allem aufgrund der klimatischen Bedingungen und des unzureichenden Flächenangebots in Deutschland nicht in ausreichendem Maße produziert werden können. Dazu gehören primär Sojaerzeugnisse als Futtermittel für die deutsche Tierindustrie (Geflügel und Schwein), Rohkaffee zur Veredelung in Deutschland, Fleisch (v.a. Geflügel und Rind) für den Lebensmittelmarkt oder als verarbeitetes Produkt, Zucker für die Ernährungswirtschaft und zur Bioethanol-Produktion sowie Fruchtsäfte (v.a. Orangensaftkonzentrat). Importe aus Brasilien leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherung der deutschen Ernährungswirtschaft und damit auch für deutsche Agrarexporte – man denke an Kaffee und Fleischprodukte.
Was macht diese Märkte aus Ihrer Sicht attraktiv für deutsche Lebensmittelhersteller?
Roland Mohr: Zum einen sprechen die Zahlen für sich: Brasilien ist die mit Abstand größte Volkswirtschaft Lateinamerikas und die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Innerhalb einer Bevölkerung von rund 203 Millionen Menschen gibt es eine obere Mittelschicht und Oberschicht von rund 35 Millionen Menschen, die als potentielle Kunden für qualitativ hochwertige und hochpreisigere deutsche Lebensmittel gelten.
Hinzu kommt eine im Allgemeinen positive Resonanz auf alles made in Germany als Ausdruck hoher Qualität. Dies wird befördert durch eine große kulturelle Nähe zu Deutschland: Circa eine Millionen Brasilianer sind deutschen Ursprungs und etwa eine Million sind deutschsprachig. 2024 wurde in vielen Landesteilen Brasiliens 200 Jahre deutschsprachige Einwanderung nach Brasilien gefeiert. In Blumenau im Süden Brasiliens findet das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands statt. Rund 1.400 deutsche Unternehmen sind im Land vertreten, davon etwa 800 im Großraum São Paulo, was die Stadt zu einem der größten Wirtschaftsstandorte deutscher Unternehmen im Ausland macht. Deutsche Unternehmen tragen spürbar zum BIP Brasiliens bei und beschäftigen rund 250.000 Personen. Dies wird flankiert durch Deutsch-Brasilianische Auslandshandelskammern in São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre sowie durch eine sehr umfassende und lebhafte Messelandschaft für die Agrar- und Ernährungswirtschaft.
All dies bietet exportinteressierten deutschen Unternehmen eine vielversprechende Ausgangslage.
Welche Herausforderungen bestehen für Unternehmen beim Zugang zu den MERCOSUR-Märkten?
Roland Mohr: Die Herausforderungen für ausländische Unternehmen, die in Brasilien Fuß fassen wollen, lassen sich vereinfacht gesagt mit dem Begriff Custo Brasil zusammenfassen. Damit ist gemeint eine Kombination von hoher Steuerlast und einem komplizierten Steuersystem, komplexen und oft schwer durchschaubaren gesetzlichen Rahmenbedingungen, administrativen Ineffizienten, hohen Importzöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen, mangelhafter Infrastruktur und hohen Transportkosten sowie einer schwankungsanfälligen nationalen Währung.
Mit einem Offenheitsgrad von rund 35 Prozent – das heißt Außenhandel (Exporte + Importe) in Relation zum BIP – weist die brasilianische Wirtschaft eine relativ schwache Integration in globale Lieferketten auf und gilt als relativ abgekoppelter Markt mit hohen Einfuhrzöllen.
Im Bereich Lebensmittel und Agrarprodukte erschweren zudem häufig wechselnde Importanforderungen, Zulassungsverfahren und Kennzeichnungsvorschriften den Marktzugang. Eine enge Abstimmung mit lokalen Behörden und Importeuren ist daher unerlässlich.
Hinzu kommen Sprachbarrieren (Portugiesisch als vorherrschende Geschäftssprache mit geringer Verbreitung der englischen Sprache) und kulturelle Besonderheiten (persönliche Beziehungen und Vertrauen sind essentiell für eine erfolgreiche Geschäftsanbahnung).
Kurzum: Brasilien ist nichts für Anfänger und erfordert einen langen Atem.
Nach über zwei Jahrzehnten Verhandlungen wurde ein Abkommen über das Freihandelsabkommen angekündigt. Wie wird diese Einigung in Brasilien und den MERCOSUR-Staaten bewertet?
Roland Mohr: Die brasilianische Regierung bewertet die Einigung durchgehend positiv und sieht es als eine Chance zur wirtschaftlichen Diversifizierung und stärkeren Integration in den Weltmarkt. Präsident Lula hat sich durchgehend für das Abkommen ausgesprochen. Man hofft in Brasilien nun auf eine rasche Ratifizierung und sieht den Ball im Feld der EU.
Auch die meisten Wirtschaftsverbände sind optimistisch. Die großen exportorientierten Sektoren im Agrarsektor (zum Beispiel Soja, Fleisch, Zucker) erhoffen sich einen besseren Zugang zum europäischen Markt. Die brasilianischen Industrie- und Handelsverbände bewerten das Abkommen grundsätzlich positiv, verweisen aber auch Wettbewerbsnachteile gegenüber europäischen Industriegütern und fordern begleitende Maßnahmen wie Technologietransfer und faire Anpassungsfristen.
Kritik kommt wie auch in der EU von Umwelt- und Indigenen-Schutzorganisationen. Diese warnen, dass das Abkommen den Druck auf die natürliche Vegetation insbesondere im Amazonasbiom erhöhen könnte, etwa durch mehr Viehzucht oder Sojaanbau, und fordern klare Umweltauflagen.
Wie würde ein Inkrafttreten des MERCOSUR-Abkommens die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien konkret verändern?
Roland Mohr: Das Abkommen würde mehr als 90% der Zölle zwischen beiden Wirtschaftsblöcken entfernen und EU-Unternehmen damit rund vier Milliarden Euro an Kosten sparen. Insbesondere die deutsche Industrie (Maschinen, KFZ, Chemie, Pharma), aber auch die Ernährungswirtschaft würden vom Abbau der aktuell hohen Einfuhrzölle profitieren und im Mercosur Marktanteile gewinnen. Gleiches gilt für brasilianische Agrarerzeugnisse in der EU. Von einem Abbau technischer Handelshemmnisse wie Normen und Produktzulassungen werden beide Seiten profitieren. Ferner kann die deutsche Ernährungsindustrie von einer vereinfachten Einfuhr brasilianischer Rohstoffe profitieren. Mehr als 350 geographische Angaben werden anerkannt, was Hersteller traditioneller europäischer Lebensmittel vor Nachahmungen schützen wird.
Viel wichtiger als der Blick auf einzelne Sektoren erscheint mir aber auch hier das große Ganze: In der aktuellen äußerst volatilen handelspolitischen Gemengelage ist es wichtiger denn je, dass sich verbleibende Partner noch enger aneinanderbinden und ein starkes Signal für offene Märkte und einen regelbasierten Welthandel senden. Laut EU-Kommission könnte der Handel zwischen der EU und Mercosur um bis zu 40 Prozent zulegen. Dieses Potential muss gehoben werden.
Welche Chancen, aber auch welche Risiken ergeben sich aus dem Abkommen für die deutsche Ernährungswirtschaft?
Roland Mohr: Da verweise ich auf die Einschätzung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft: Das Abkommen schafft neue Exportchancen für die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft. Gleichzeitig schützt es durch vereinbarte begrenzte Quoten, die unterhalb aktuell bestehender Importmengen aus den Mercosur-Ländern liegen sowie durch bestimmte Schutzmechanismen sensible Agrarbereiche wie Rindfleisch, Geflügel und Zucker, um potentielle Risiken zu minimieren.
Keine oder geringere Zölle auf EU-Agrarprodukte werden auch deutschen Landwirten und der deutschen Ernährungswirtschaft einen besseren Marktzugang gewähren. Dies gilt unter anderem für Bier und Wein, Schokolade, Käse und Milchpulver.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind Bestandteil des Abkommens. Wie verbindlich werden diese Regelungen in Ländern wie Brasilien wahrgenommen?
Roland Mohr: In Brasilien ist man sich den Anforderungen an Nachhaltigkeit und Klimaschutz der EU bewusst – was nicht heißt, dass man diesen gänzlich zustimmt. Die Verbindlichkeit derartiger Anforderungen wird in Brasilien durch die Verschiebung des Inkrafttretens der EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten (EUDR) um 12 Monate seitens der EU in Brasilien allerdings etwas in Frage gestellt. Daher ist es wichtig, klar zu kommunizieren, dass es beim EU-Mercosur-Abkommen kein Einlenken geben wird.
Welche Rolle können Veranstaltungen wie der Außenwirtschaftstag dabei spielen, Unternehmen Orientierung und Impulse zu geben?
Roland Mohr: Beim Außenwirtschaftstag kommen alle zwei Jahre Vertreterinnen und Vertreter der Ernährungswirtschaft, von Unternehmen, Verbänden und der Politik aus dem In- und Ausland zusammen. Dies schafft eine exzellente Plattform zum Netzwerken und zum Austausch über Chancen und Herausforderungen bei der Suche nach attraktiven Absatz- und Beschaffungsmärkten. Als Vertreter des BMEL an der Deutschen Botschaft in Brasilien werde ich meine Eindrücke vor Ort mit interessierten Unternehmen und Verbänden gerne teilen.
Vielen Dank für das Interview!
Roland Mohr ist Referent für Ernährung und Landwirtschaft an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Brasília.
Hier finden Sie alle Infos und die Anmeldung zum Außenwirtschaftstag 2025 am 3. Juni 2025 in Berlin.