Die Lebensmittelproduktion war lange eine Branche, die vor allem auf Handwerk, Erfahrung und Standardisierung setzte. Maschinen erledigten das Grobe, Menschen das Feine. Sensoren piepsten, wenn ein Förderband stockte, Qualitätsprüfer rochen, fühlten, schmeckten. Heute genügt ein Algorithmus, um aus Milliarden Datenpunkten Muster zu lesen, die dem menschlichen Auge entgehen – und aus diesen Erkenntnissen jede Charge Marmelade, Käse oder Bier gezielt zu optimieren.
Carlos Osés Rodriguez, technischer Experte beim Technologiekonzern Siemens, beschreibt das Verhältnis von Mensch und Maschine in dieser neuen Welt als „digitale Begleitung“: „Die KI spielt nicht die Hauptrolle, sondern eine unterstützende, um eine integrative Arbeitsumgebung zu schaffen, in der Menschen ihre Effizienz und Innovationskraft steigern können.“ Künstliche Intelligenz in der Lebensmittelindustrie assistiert, erkennt Muster und schlägt Lösungen vor, doch die Entscheidungsautonomie bleibt beim Menschen.
In der Praxis bedeutet das: Produktionsanlagen passen Rezepturen automatisch an, wenn der Zuckergehalt der verwendeten Früchte schwankt. KI-gestützte Systeme analysieren Bilder von Keksen auf Unregelmäßigkeiten. Defekte Ware wird in Echtzeit aussortiert – mit einer Präzision, die selbst die erfahrensten Qualitätsprüfer übertrifft. Und auch Wartungsarbeiten von Anlagen können mithilfe von KI frühzeitig vorausgesagt werden.
Aus Daten werden Informationen
„Die Lebensmittelverarbeitung ist schon lange hochautomatisiert – aber nicht durchgängig datengestützt“, sagt Christian Krupitzer, Juniorprofessor für Lebensmittelinformatik an der Universität Hohenheim. Die meisten eingesetzten Maschinen sammeln Daten, aber noch werden sie „viel zu selten genutzt für eine Analyse der Produktionsprozesse“, so Krupitzer. In seiner Forschung arbeitet er daran, genau das zu ändern. Sein Team entwickelt sogenannte digitale Lebensmittelzwillinge – also virtuelle Modelle von realen Produkten und Prozessen. In einem Projekt mit einer Molkerei konnten Krupitzer und sein Team mithilfe von maschinellem Lernen Fehlerquellen ermitteln, die über Jahre hinweg als nicht identifizierbar galten.
So werden aus Bauchgefühlen belastbare Erkenntnisse – und aus Daten praxisnahe Innovationen. „Das Potenzial für den Ansatz ist nicht auf die Milchindustrie beschränkt. Aktuell untersuchen wir in weiteren Projekten die Identifizierung von Qualitätsdefekten in Fleischprodukten, die Analyse der Frische von Obst und Gemüse und die Prozesse der Sprühtrocknung“, so Krupitzer.
Er sieht vor allem in der Rückverfolgbarkeit großes Potenzial für Künstliche Intelligenz in der Lebensmittelindustrie. „Die Kunden fordern zunehmend Transparenz und Nachverfolgbarkeit der Lebensmittel,“ so Krupitzer. Und natürlich profitieren auch Unternehmen davon, wenn sie ihre Prozesse besser verstehen. Sein Fachgebiet erforscht auch den Einsatz von Blockchain-Technologien zur manipulationssicheren Nachverfolgung von Lebensmitteln – vom Feld bis zum Supermarktregal.
Qualität, Haltbarkeit – und eine digitale Zunge
Auch Jens Schröder, Leiter Automatisierungstechnik am DIL – dem Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik – ist überzeugt, dass Künstliche Intelligenz zur Schlüsseltechnologie der Branche wird. „Im Bereich der optischen Qualitätskontrolle werden sich in den nächsten Jahren Systeme etablieren, die sich leicht auf unterschiedliche Produkte und Prozesse anpassen lassen.“ Er spricht von Hyperspektralkameras und Röntgensystemen, die in Kombination mit KI selbst kleinste Fremdkörper oder Qualitätsmängel erkennen – längst nicht mehr nur in Stichproben, sondern mitten im Produktionsfluss.
Doch Schröder denkt schon weiter: „Ein essenzieller Faktor ist der Geschmack und der lässt sich durch eine optische Kontrolle nur sehr eingeschränkt ableiten.“ Erste Ansätze erproben sensorische Datenanalysen, die mithilfe von KI geschmackliche Parameter vorhersagen. Das Ziel: Nicht nur sehen, was nicht passt – sondern auch schmecken.
Forschende der Pennsylvania State University haben bereits eine elektronische Zunge entwickelt, die mithilfe von KI feinste Geschmacksnuancen in Flüssigkeiten wie Milch, Säften oder Kaffee erkennen kann. Diese Technologie analysiert chemische Ionen und nutzt ein künstliches neuronales Netzwerk zur Auswertung, wodurch sie in der Lage ist, Frische und Qualität zuverlässig zu identifizieren.
Nachhaltigkeit rechnet sich
Ein zentrales Argument für den Einsatz von KI ist die Nachhaltigkeit. Wer Ausschuss reduziert, spart Ressourcen. Wer präziser plant, vermeidet Überproduktion. Und wer die Nachfrage besser vorhersieht, nutzt Lagerflächen und Transportkapazitäten effizienter. Auch die Lieferkette profitiert: Temperatur, Feuchtigkeit und Frische lassen sich während Transport und Lagerung überwachen, ein drohender Verderb wird rechtzeitig erkannt.
„KI hilft, die Lebensmittelverluste entlang der gesamten Kette signifikant zu minimieren“, sagt Osés Rodriguez. Auch für Konsumenten wird das spürbar: etwa in Form längerer Haltbarkeit, dynamischer Preisgestaltung oder digitaler Unterstützung beim Einkauf. Im EU-Projekt PLAMINPACK arbeitet Krupitzer an Verpackungen, bei denen digitale Zwillinge und moderne Messtechnologien eingesetzt werden, um den Einfluss von Verpackungseigenschaften auf die Haltbarkeit von Lebensmitteln zu analysieren. „Dieses Wissen könnte in Apps integriert werden, sodass Konsumierende zum Beispiel mittels Bildanalyse prüfen können, wie lange die Lebensmittel noch haltbar sind“, so Krupitzer.
Personalisierte Ernährung und KI-Rezepte
Langfristig könnte die KI noch mehr leisten. Denkbar sind individuelle Ernährungspläne – abgestimmt auf Genetik, Lebensstil oder gesundheitliche Bedürfnisse. Auch ganz neue Produkte entstehen mit Unterstützung intelligenter Systeme. „Durch Analysen des Kaufverhaltens von Konsumenten liegen Daten zu Vorlieben für spezielle Produkte und Geschmäcker vor. Hieraus lassen sich Ableitungen für Rezepturen treffen, die perspektivisch am Markt erfolgreich sind“, sagt Jens Schröder.
Beispiele aus der Praxis gibt es bereits. Coca-Cola brachte mit „Y3000“ eine limitierte Getränkesorte auf den Markt, deren Rezeptur und Verpackungsdesign mithilfe von KI entwickelt wurden. Die KI analysierte globale Geschmackstrends und Konsumentendaten, um ein Getränk zu kreieren, das den Geschmack der Zukunft widerspiegeln soll. Die Brauerei Beck’s feierte ihr 150-jähriges Jubiläum mit dem „Autonomous“-Bier, dessen Rezeptur von einer KI erstellt wurde. Die KI entwickelte nicht nur das Rezept, sondern auch den Namen, das Etikettendesign und die Marketingstrategie.
Auch den Kaffee-Geschmack soll die KI optimieren. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) hat in Zusammenarbeit mit dänischen Partnern KI-Algorithmen entwickelt, die Kaffeemischungen basierend auf gewünschten Geschmacksprofilen verfeinern. Durch die Analyse von rund 200 Bohnensorten können Hersteller spezifische Aromen wie Säure oder Süße gezielt anpassen, um den unterschiedlichen Vorlieben der Konsumenten gerecht zu werden.
Künstliche Intelligenz in der Lebensmittelindustrie: Zwischen Potenzial und Praxis
Trotz aller Fortschritte: Die Einführung von KI ist nicht trivial. Viele Unternehmen stehen noch am Anfang, so die Einschätzung von Jens Schröder. Die Herausforderungen seien technischer, organisatorischer und nicht zuletzt kultureller Natur. Es braucht qualifiziertes Personal, standardisierte Schnittstellen, hochwertige Daten – und Vertrauen. „Oft fehlt es an Best-Practice-Beispielen, die zeigen, wie sich der Aufwand lohnt“, so Schröder.
Künstliche Intelligenz in der Lebensmittelindustrie ist keine Plug-and-Play-Lösung. Sie verlangt Investitionen, Veränderungsbereitschaft – und ein strategisches Ziel. Auch regulatorisch ist vieles noch unklar – etwa im Hinblick auf Haftung oder Datenschutz. Und nicht zuletzt bleibt die Frage nach dem Mensch-Maschine-Verhältnis. Ersetzt KI Arbeitsplätze? „Nein“, sagt Osés Rodriguez. „Sie verändert sie.“ Zusätzlich entstehen neue Berufsbilder: Datenanalysten, Systemintegratoren, KI-Trainer. Die Produktionshalle der Zukunft ist digital – aber nicht menschenleer.