Gas reduzieren: Das können die Unternehmen der Ernährungsindustrie kurz- und mittelfristig tun

Prof. Dr.-Ing. Jörg Meyer lehrt Energiemanagement und Energietechnik an der Hochschule Niederrhein. Im Interview zeigt er auf, wie Lebensmittelhersteller weniger Gas verbrauchen und auf klimaneutrale Energieträger umstellen können. Er betont auch, dass hohe Zusatzkosten nicht zu einem Wettbewerbsnachteil werden dürfen.

Am 23.6.2022 hat Bundeswirtschaftsminister Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Es zeichnet sich die reale Gefahr ab, dass der Bezug von russischem Erdgas gänzlich zum Erliegen kommt. Welche Konsequenzen hätte dies für Deutschland?

Prof. Dr. Jörg Meyer: Ein kurzfristiger kompletter Ausfall russischer Gasflüsse nach Europa kann – wenn überhaupt nur mit sehr viel Aufwand und zu sehr hohen Kosten durch andere Quellen ersetzt werden. In den kommenden Wintern droht eine erhebliche Versorgungslücke.

Die Herausforderung ist hier nicht nur die Erschließung alternativer Quellen, sondern auch der Transport. Das europäische Gasnetz ist zum Beispiel nicht für einen Transport von West nach Ost ausgelegt.

Würde dies auch die Unternehmen der Ernährungsindustrie betreffen?

Prof. Dr. Jörg Meyer:Sollte es zu einem Ausfall aller russischen Gasflüsse kommen und in diesem Zusammenhang die Notfallstufe verkündet werden, sind Rationierungen in der Industrie zu erwarten, da geschützte Kunden laut Notfallplan Vorrang haben. Dazu gehören Privathaushalte und soziale Dienstleister, wie z.B. Altenheime und Krankenhäuser. Die Bundesnetzagentur bzw. die Bundesländer würden in diesem Fall als Lastverteiler agieren und es käme somit zu Eingriffen in den Markt.

In dieser Situation werden Abwägungen vorzunehmen sein, welche Wirtschaftszweige bzw. die Herstellung welcher Güter zu priorisieren ist. Die Bundesnetzagentur hat in diesem Kontext verschiedentlich geäußert, dass beispielsweise die Pharma- und die Ernährungsindustrie, aufgrund der essentiellen Bedeutung der von diesen Branchen hergestellten Produkte, gegebenenfalls mit einer Priorisierung rechnen können. Mit Blick auf die Ernährungsindustrie ist es jedoch durchaus denkbar, dass in der konkreten Situation eine Differenzierung nach Produktgruppen vorgenommen wird.

Wie wird das entschieden?

Prof. Dr. Jörg Meyer: Die Bundesnetzagentur hat geäußert, dass sie ihre Entscheidung gegebenenfalls auf einer möglichst soliden Datenbasis treffen möchte, die die gesamte Lieferkette einbezieht. Denn die Herstellung von Nahrungsmitteln muss beispielsweise mit der Verfügbarkeit entsprechender Verpackungen und logistischer Dienstleistungen flankiert werden, um beim Endverbraucher anzukommen. Zu diesem Zweck wird von dieser Behörde zurzeit das Datenportal „Sicherheitsplattform Gas“ entwickelt, dessen Inbetriebnahme zum 01.Oktober 2022 vorgesehen ist.

Welche Möglichkeiten haben die Nahrungsmittel- und Getränkehersteller, um ihren Erdgasbedarf kurzfristig zu reduzieren?

Prof. Dr. Jörg Meyer: Jeder, nicht nur die Nahrungsmittel- und Getränkehersteller, kann jetzt schon – also kurzfristig – einen Beitrag leisten. Die Maßnahmen sind vielen Verantwortlichen auch bekannt und wurden teilweise auch schon umgesetzt. Es geht hier um Maßnahmen ohne oder mit nur geringen Investitionssummen.

Bei den Empfehlungen muss zwischen der Reduzierung von Erdgas für die Raumwärme, von Erdgas für die Prozesswärme (in der Regel Dampferzeugung) und von Erdgas für die Produktion unterschieden werden.

Für alle Bereiche gilt: Die Sensibilisierung der Mitarbeiter für das Thema Energieeinsparung sind ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg. Wenn alle Mitarbeiter aufmerksam sind und mitmachen, kann viel Energie kurzfristig eingespart werden.

Was können die Unternehmen konkret tun?

Prof. Dr. Jörg Meyer: Zur Reduzierung des Erdgasbedarfs bei der Raumwärme empfehle ich Folgendes zu prüfen:

  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? Gibt es zum Beispiel eine Öl-Heizung (macht nur Sinn, wenn Heizölinfrastruktur schon vorhanden ist) oder Elektro-Heizung?
  • Kann die Temperatur in allen Räumen oder in einigen Räumen reduziert werden? Können einzelne Räume (Lager, nicht genutzte Büros) weniger beheizt werden? Gegebenenfalls muss die Bekleidung der Belegschaft (Jacke im Lager tragen) angepasst werden. Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Hier kann die Dichtigkeit der Fenster, Türen und Tore geprüft werden. Auch das Lüftungsverhalten kann gegebenenfalls optimiert werden.
  • Ist die Steuerung der Heizung optimal? Hier könnte ein modernes Steuersystem nachgerüstet werden.
  • Ist die Heizung gewartet? Sind die Heizkörper frei?
  • Sind alle Leitungen gedämmt? Hier kann auch in Eigenleistung einfache Dämmungen montiert werden.
  • Wird das Heizungswasser optimal verteilt? Hier kann ein hydraulischer Abgleich durchgeführt werden.

Im Bereich Prozesswärme (Dampferzeuger) empfehle ich folgende kurzfristigen Maßnahmen zur Reduzierung des Erdgasbedarfs:

  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? Konkret: Gibt es einen Kessel oder Brenner, der mit Öl betrieben werden kann (macht nur Sinn, wenn Heizölinfrastruktur schon vorhanden ist). Bei kleinen Dampfbedarfe kann gegebenenfalls auch kurzfristig ein Elektro- oder Elektrodenkessel installiert werden.
  • Können Prozesstemperaturen (teilweise) reduziert werden? Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Sind die Anlagen ausreichend gedämmt? Sind die Kondensatabscheider intakt? Gibt es unnötige Kondensatverluste?
  • Ist die Steuerung der Dampfkessel optimal? Hier könnte ein modernes Steuersystem mit z.B. einer O2-Regelung nachgerüstet werden.
  • Werden die Kessel regelmäßig gewartet? Ist die Abschlämmung automatisiert?
  • Sind alle Leitungen gedämmt? Hier kann auch in Eigenleistung einfache Dämmungen montiert werden.

Die Reduzierung des Erdgasbedarfs in der Produktion ist schwieriger. Hier empfehle ich Folgendes zu prüfen:

  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? Konkret: Können die Brenner an den Produktionsanlagen mit Heizöl betrieben werden (macht nur Sinn, wenn Heizölinfrastruktur schon vorhanden ist)?
  • Können Prozesstemperaturen (teilweise) reduziert werden? Sind die Produktionsanlagen optimal belegt? Sind die Luftwechselzahlen optimal eingestellt? Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Sind die Anlagen ausreichend gedämmt? Können bevorzugt Produkte hergestellt werden, die weniger Wärme benötigen?
  • Ist die Steuerung der Brenner bzw. der Anlage optimal? Hier sollte mit dem Brennerhersteller oder Anlagenlieferanten gesprochen werden.

Wie sollten die Unternehmen ihre Energieversorgung mittel- und langfristig ausrichten?

Prof. Dr. Jörg Meyer:Die mittel- und langfristige Ausrichtung der Energieversorgung hängt stark von den politischen Vorgaben ab. Unbestritten ist, dass die zukünftige Energieversorgung ohne fossile Energieträger auskommen muss. Ich sehe hier vier Möglichkeiten: Elektrifizierung, Einsatz von Biogas oder Biomasse, Einsatz von Wasserstoff oder Einsatz von synthetischen Kohlenwasserstoffen (z.B. Methan als Erdgasersatz)

Definitiv sind die mittel- und langfristigen Maßnahmen mit Investitionen verbunden. Die Empfehlungen für kurzfristigen Maßnahmen gelten auch mittel- und langfristig, d.h.

  1. Temperaturen und Wärmebedarfe sollten so gering wie möglich sein.
  2. Leitungen, Anlagen und Räume sollten ausreichend gedämmt sein.
  3. Die Versorgungseinheiten und Anlagen sollten gewartet sein und über moderne Steuerungseinheiten verfügen, die auch genutzt werden bzw. richtig eingestellt sind.
  4. Die Herstellung von energieintensive Produkten wird verringert.
  5. Bei den mittel- und langfristigen Maßnahmen muss prinzipiell auch wieder zwischen Empfehlungen für die Bereiche Raumwärme, Prozesswärme und Produktion unterschieden werden.

Unabhängig von der Energieversorgungseinheit gilt aber für alle Bereiche: Die Nutzung von Abwärme muss verbessert werden. Die Dämmung, also die Vermeidung der Entstehung von Abwärme, wurde oben schon angesprochen. Im nächsten Schritt ist dann zu prüfen, ob Wärmemengen im Prozess selber genutzt werden können, ob ein anderer Prozess des Unternehmens die Wärmemengen nutzen kann und schließlich ob ein benachbartes Unternehmen die Wärmemengen nutzen kann. Die Nutzung der Abwärme ist mit Investitionen für Wärmeübertrager und Leitungen verbunden. Hier sind natürlich auch die Abwärmen von strombetriebenen Anlagen (z.B. Druckluft- oder Kälteanlagen) interessant.

In diesem Zusammenhang spielen auch Wärmespeicher eine große Rolle. Oft fallen Abwärmemengen und Wärmebedarfe nicht gleichzeitig an. Die Wärmemengen können zwischengespeichert werden.

Falls die Temperatur der bereitgestellten Wärme nicht ausreicht, kann eine Wärme-pumpe installiert werden, die die gewünschte Temperatur erzeugt. Der Einsatz von Wärmepumpen bietet sich gegebenenfalls auch in Kombination mit der Nutzung von Erneuerbaren Energie an. Die Solarthermie kann im Sommer in der deutschen Ernährungsindustrie aufgrund der teilweise niedrigen Temperaturen gut für eine Prozesswärmebereitstellung eingesetzt werden, z.B. in einem Pasteur. Als weitere Einbindungsoptionen sind eine Vorwärmung des Kesselspeisewassers oder eine direkte Erwärmung von CIP Wasser möglich. Für die Nutzung von Geothermie gilt dies auch.

Welche konkreten Maßnahmen empfehlen Sie Unternehmen für die Bereiche Raumwärme, Prozesswärme und Produktion?

Prof. Dr. Jörg Meyer:Im Bereich Raumwärme wird die Wärmepumpe (ggf. kombiniert mit einer Stromheizung) die bevorzugte Alternative sein. Als Wärmequelle kann Geothermie, Abwärme aus einem Prozess oder Umgebungswärme eingesetzt werden. Vorausgesetzt, es werden ausreichende Strommengen im Markt angeboten und die Stromzuleitungen sind ausreichend dimensioniert. Sollte die Versorgung mit Strom nicht möglich sein, kann – bei einer vorhandenen Erdgasleitung – Biogas oder Wasserstoff eingesetzt werden. Ist kein Erdgasanschluss vorhanden ist Biomasse (i.d.R. Holz) die Alternative – langfristig ggf. auch synthetische Kraftstoffe.

Nutzung von Abwärme kann durch gezielte Zu- und Abfuhr von Luft mit integriertem Wärmeübertrager erfolgen. Bei Heizungen mit Brenneinheiten sollte die Brennwertnutzung installiert sein, d.h. die Nutzung der Abgaswärme zu Vorwärmung der Verbrennungsluft.

Die Alternative zu einer Dampferzeugung (Prozesswärme) mit Erdgas oder Heizöl ist der Elektro- oder Elektrodenkessel. Hier gilt ebenfalls: Sind keine ausreichenden Strommengen im Markt vorhanden oder Zuleitungen nicht ausreichend dimensioniert, kann Biogas oder Wasserstoff bzw. Biomasse eingesetzt werden.

Nutzung von Abwärme kann bzw. muss in den Produktionsanlagen erfolgen (Vorwärmung von Frischluft und Rohstoffen). Bei Dampferzeuger mit Brenneinheiten sind Wärmeübertrager zur Vorwärmung der Verbrennungsluft und des Speise-wassers ein Muss.

Umstellungen in der Produktion sind am schwierigsten. Der Einsatz von Biogas oder Wasserstoff (oder synthetisches Erdgas) ist mit den geringsten baulichen und verfahrenstechnischen Änderungen verbunden. Für die Alternative Strombeheizung müssen in vielen Bereichen noch Anlagen entwickelt werden. Langfristig ist das aber durchaus möglich.

Für die Nutzung von Abwärme gilt auch hier, dass in den Produktionsanlagen eingesetzte Frischluft und Rohstoffen vorgewärmt werden können.

Haben Sie noch abschließende Worte?

Prof. Dr. Jörg Meyer:Die drohende Erdgasknappheit stellt die Unternehmen der Ernährungsindustrie in Deutschland vor sehr großen Herausforderungen. Die Elektrifizierung, der Einsatz von Erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz stellen Instrumente dar, die sehr gut geeignet sind, den Erdgaseinsatz in den Unternehmen zu senken.

Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass eine Umstellung auf klimaneutrale Energieträger mittel- und kurzfristig möglich ist. Und dass auch schon kurzfristig der Erdgasbedarf reduziert werden kann. Aber durch Maßnahmen entstehen zum Teil hohe Zusatzkosten für die Betriebe, die einen gravierenden Wettbewerbsnachteil darstellen können. Außerdem ist ein Ausbau der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien sowie die Bereitstellung von ausreichenden Mengen an klimafreundlichen Brennstoffen wie Biomasse eine zwingende Voraussetzung. Um die finanzielle Belastung zu mildern, müssen Steuern und Umlagen auf Strom und klimafreundliche Energieträger soweit wie möglich reduziert werden. Nur so kann die Ernährungsindustrie bei einem klimaneutralen Betrieb wirtschaftlich produzieren und somit wettbewerbsfähig bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Angesichts einer möglichen Gasmangellage fordert die BVE:

  • Die Ernährungsindustrie braucht Planungssicherheit bei der Energieversorgung. Die Regierung muss die Energieversorgung dauerhaft gewährleisten.
  • Berücksichtigung der Nahrungsmittelherstellung als „Kritische Infrastruktur“ im Fall der Verknappung von Erdgas und Priorisierung bei der Konzeption von Vorranglisten.
  • Die rasant steigenden Preise bei Rohstoffen können nicht allein von der Ernährungsindustrie getragen werden. Eine Entlastung bei den Energiepreisen unter anderem bei Mineralölsteuer, Stromsteuer und Netzentgelten ist dringend erforderlich.

Das Argumentationspapier „Die Ernährungsindustrie an der Belastungsgrenze“ können Sie hier downloaden.

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