„Das Thema Nachhaltigkeit wird international immer wichtiger“

Dr. Christian Geßner, Leiter des Zentrums für Nachhaltige Unternehmensführung (ZNU) rät im Interview, beim Thema Nachhaltigkeit nicht nur aus der Defensive zu agieren, sondern auch zu gucken, wie durch die Nachhaltigkeitsbrille Innovationen entwickelt werden können. Auf dem 10. Außenwirtschaftstag der Agrar- und Ernährungswirtschaft ist er im Forum „Transformation der Ernährungssysteme – Auswirkungen auf Export & Versorgung“ als Experte zu Gast.

Quelle: ZNU

BVE: Welche Anforderungen an Nachhaltigkeit aus Sicht der Abnehmer deutscher Lebensmittel sind aus Ihrer Sicht am relevantesten?
Dr. Christian Geßner: Wir führen alle fünf Jahre gemeinsam mit der Lebensmittel Zeitung eine Umfrage zu „Nachhaltigkeit in der FMCG-Branche“ durch. Eines der Schlüsselergebnisse ist, dass die langfristige Zusammenarbeit mit den Lieferanten für die Abnehmer am relevantesten ist. So entsteht eine Vertrauensbasis. Da weiß man: Die Produkte stimmen, die Lieferungen sind zuverlässig. So kann man gemeinsam auch auf bestimmte dynamische Marktveränderungen reagieren; seien es jetzt Klimafolgenanpassungen oder andere Herausforderungen.

Dass das Thema Nachhaltigkeit international immer wichtiger wird, spiegelt auch unsere Niederlande-Studie wider, die wir letztes Jahr zusammen mit der Marketinggesellschaft der niedersächsischen Land- und Ernährungswirtschaft durchgeführt haben. Die vom niedersächsischen Ernährungsministerium beauftragte Studie befragte neben deutschen Lebensmittelherstellern auch niederländische Importeure und Händler zu Nachhaltigkeitsthemen und welches Länder-Ranking sich bei diesem Thema ergibt. Ergebnis: Generell schätzen die Befragen Österreich, Dänemark, Schweiz und Niederlande als die Exportmärkte mit den höchsten Nachhaltigkeitsanforderungen ein. Das Schlusslicht bildet hier hinter den USA, Tschechien und China.

In Bezug auf die Niederlande als größten Exportmarkt für deutsche Lebensmittel stehen zunächst ökonomische Themen wie Qualität, Lieferzuverlässigkeit und Transparenz im Vordergrund. Sozialen Themen wie der Vermeidung von Kinderarbeit kommt in den Niederlanden laut Studie eine höhere Bedeutung zu als in Deutschland. Im Umweltbereich geht es insbesondere um die Themen recyclingfähige Verpackungen, nachhaltige Zertifizierungen und Abfall- und Gefahrenstoffvermeidung. Daran sieht man, dass auch wenn sich viele Anforderungen internationaler Abnehmer mit den deutschen abgleichen, manchmal einige Themen anders gewichtet werden.

BVE: Das Gesetz zu entwaldungsfreien Lieferketten kommt auch noch dazu. Glauben Sie denn, dass sich durch die Gesetze in dem Verhältnis zwischen den Lieferanten und Unternehmen nochmal etwas ändern wird?
Dr. Christian Geßner: Ja, ich denke schon. Die EU-Berichterstattungspflicht ist natürlich auch nochmal so ein Punkt, der jetzt auf die deutschen Unternehmen zukommt. Und aus diesem Trickle-Down Effekt, dass also auch kleinere Unternehmen, die an die großen Handelsketten liefern, diese Berichterstattung erfüllen müssen, entsteht auch die Gefahr, dass das Thema Nachhaltigkeit nicht gemeinsam angegangen wird, um die Situation zu verbessern. Sondern dass es dann auch in der Kette machtpolitisch instrumentalisiert werden und zum Handelshemmnis werden könnte. Insbesondere KMU sind hier betroffen.

BVE: Wo sind die Unternehmen denn schon gut aufgestellt?
Dr. Christian Geßner: Beim Thema umweltfreundliche Verpackungen sind die Unternehmen schon ganz gut aufgestellt. Auch beim Thema nachhaltige Innovationen, ressourcenschonende Produktionsmethoden und natürlich generell bei Themen wie Qualität und Arbeitssicherheit. Das sind Bereiche, in denen die deutschen Hersteller jetzt schon recht weit vorne sind im Vergleich zu anderen Ländern, wo das vielleicht nicht so stark kontrolliert wird. Diese Vorteile sichtbarer zu machen, ist eine wichtige Zukunftsaufgabe.

BVE: Wo ist noch Luft nach oben?
Dr. Christian Geßner: Wenn wir jetzt von den Klimazielen sprechen und den Berichterstattungspflichten, dann ist es erstmal grundlegend, eine fundierte Klimabilanz zu haben. Und diese fehlt nach meiner Einschätzung noch bei mehr als der Hälfte der Unternehmen. Da ist sicherlich noch Luft nach oben. Wichtig ist, dass sich alle Akteure von der Politik über die Wissenschaft bis hin zur Wirtschaft auf bestimmte verbindliche Bilanzierungsregeln für Teilbranchen einigen. Es sollte nicht jeder sein eigenes Süppchen kochen, das man dann nicht mehr vergleichen kann.

Ideal wäre es, wenn auf der Seite des Umweltbundesamtes offiziell steht: Für die Schweinebauern wird der CO2-Fußabruck so berechnet und hier ist das Tool dazu, inklusive entsprechender dahinterliegender Datenbanken. Und da finde ich als KMU dann gleichzeitig auch ein Pool an Beratern, die zugelassen sind und bei der Berechnung unterstützen können. Die Datenbanken, die dahinter hängen zu den Emissionsfaktoren; die kann sich ein „normaler“ Landwirt oder mittelständischer Betrieb häufig nicht leisten. Das müsste er dann über eine Beratung einkaufen. Das gleiche gilt für die LksG-Umsetzung und die Transparenz in der Lieferkette, das ist auch noch ein Punkt, wo viele noch suchen, um den richtigen Weg zu finden. Hier bietet der Sorgfalts-Kompass vom Helpdesk Wirtschaft und Menschenrechte schon eine gute erste Orientierung, aber die konkrete Umsetzung im eigenen Betrieb fällt vielen noch sehr schwer. Und generell gibt es noch große Potentiale für den Einsatz ganzheitlicher Zertifizierungssysteme, die als Fundament für eine glaubwürdige Kommunikation dienen können und es Unternehmen ermöglichen auf ihre Nachhaltigkeitsleistungen aufmerksam machen, ohne in Greenwashing-Verdacht zu geraten.

BVE: Wie werden sich Import und Export durch die Anforderungen an Nachhaltigkeit verändern?
Dr Christian Geßner: Ohne da jetzt irgendjemandem zu nahe zu treten, sind nicht alle EU-Länder in der Umsetzung der Berichterstattungspflichten so fleißig wie die Deutschen. Oder sie hängen nicht so nah an den Formulierungen, wie sie jetzt in den Gesetzestexten stehen. Das kann natürlich dazu führen, dass man in Deutschland wettbewerbsmäßig Nachteile hinnehmen muss an der Stelle, weil man nicht so kostengünstig produzieren kann.

Wenn es uns aber gelingt, das Wettbewerbsfeld und die Umsetzung der Vorhaben gut zu gestalten, entsteht auch ein Wettbewerb um mehr Nachhaltigkeit. Damit haben die deutschen Unternehmen, die schon viel in Nachhaltigkeit investiert haben, einen Vorteil, weil sie ihre Leistung viel besser an den Markt bringen können. Die Nachfrage aus anderen Ländern ist generell da. Gleichzeitig muss man beachten, dass in anderen Ländern unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb des sehr großen Thomas Nachhaltigkeit gelegt werden. In den Niederlanden haben z.B. Abfall- und Gefahrstoffe eine höhere Bedeutung als in Deutschland. Auch setzen die Holländer noch stärker auf faire Entlohnung, gesellschaftliche Einflussnahme und die Transparenz in der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Bei uns liegt der Fokus sehr stark auf Umwelt, Klima und Verpackungen. Diese Unterschiede sollten Unternehmen im Blick haben.

BVE: Damit sind wir auch gleich bei der nächsten Frage, was raten Sie Unternehmen?
Dr. Christian Geßner: Ich glaube, es ist wichtig, sich anzuschauen, welche Nachhaltigkeitssysteme gibt es, also welche Labels, Zertifizierungen etc. Was ist davon wie glaubwürdig oder passt zu meinem Nachhaltigkeitsansatz, wie ambitioniert möchte ich in der Darstellung und Weiterentwicklung meiner Nachhaltigkeitsaktivitäten sein?

2021 gab es eine Studie von der Technischen Universität Dresden für den Rat für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung. In ihr wurden verschiedene Ansätze untersucht und verschiedene Stufen der Nachhaltigkeitsorientierung dargestellt, unter anderem Mitgliedschaften beispielsweise bei B.A.U.M e.V. oder anderen Initiativen, die sich um Nachhaltigkeit in der Wirtschaft bemühen. Das ist oft der erste Schritt: Man engagiert sich auf so einer Plattform, tauscht sich aus und lernt. Es wird eine Selbstverpflichtung abgegeben. Auf der nächsten Stufe gibt es die Berichterstattungssysteme wie zum Beispiel der Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK). Man erstellt also einen Bericht, stellt ihn zur Überprüfung in eine Datenbank ein und bekommt dann sein OK. Auf der höchsten Stufe sind es dann wirklich die Audits durch unabhängige Dritte, wie z.B. TÜV, Dekra oder andere. Diese prüfen den Fortschritt der Nachhaltigkeitsleistungen im Rahmen von Managementsystemen wie EMAS oder dem von uns entwickelten ganzheitlichen ZNU-Standard Nachhaltiger Wirtschaften (driving sustainable change),

BVE: Inwieweit bietet das ZNU da Unterstützung?
Dr. Christian Geßner: Unser ZNU-Standard betrachtet Nachhaltigkeit in ihrer Ganzheitlichkeit über alle Säulen hinweg und nimmt auch die Zielkonflikte als Auslöser von Innovationen mit in den Blick. In der Zusammenschau aller Dimensionen der Nachhaltigkeit ist der ZNU-Standard der erste zertifizierbare Managementstandard dieser Art. Und da sind wir jetzt mit über 110 zertifizierten Unternehmen schon sehr gut unterwegs in Deutschland, auch vor anderen Ansätzen, die aus dem internationalen Raum kommen.

Wir empfehlen den Unternehmen, ein integriertes Managementsystem als Struktur für ihr ganzheitliches Nachhaltigkeitsmanagement zu nutzen und damit ihre nachhaltige Leistung zu fundieren. Damit sie sagen können: Wir gehen offensiv nach draußen mit unseren Klimaaktivitäten. Und wenn uns dann kritische Anspruchsgruppen das Unternehmen fragen „Schön, dass du klimaneutral bist, aber was ist mit dem Tierwohl? Oder mit den Verpackungen und den Arbeitsbedingungen?“ Dann kann das Unternehmen antworten, dass auch diese Aspekte berücksichtigt werden und Teil der Zertifizierung sind.

Ein weiterer Punkt ist unser Partnernetzwerk. Mittlerweile gibt es knapp 100 ZNU-Partner im Netzwerk, wo man sich gegenseitig austauschen kann und fragen kann: „Wie macht ihr das mit der Klimabilanz. Wann soll ich mich um was kümmern? Was kommt zuerst?“ Das ist natürlich für viele eine Erleichterung. Zudem bilden wir seit vielen Jahren Nachhaltigkeitsmanagerinnen und Nachhaltigkeitsmanager am ZNU der Universität Witten/Herdecke aus. Die Kompetenzentwicklung im eigenen Unternehmen bei diesem komplexen Thema wird immer wichtiger.

BVE: Möchten Sie noch einen Appell abgeben?
Dr. Christian Geßner: Als Unternehmen ist man glaubwürdig, wenn man sagt: „Wir haben verstanden und handeln entsprechend“ – und von unabhängiger Seite ganzheitlich zertifiziert wird. Wenn man sich nicht nur irgendwie in der Defensive absichert, sondern auch guckt, wie durch die Nachhaltigkeitsbrille Innovationen entwickelt werden können, dann ist da eine Chance auf Erfolg, national wie international. Denn jetzt ist die Zeit dafür, auch wenn der Druck groß ist.

BVE: Vielen Dank für das Interview!

Mehr Infos:

Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung (ZNU)

Der Außenwirtschaftstag der Agrar- und Ernährungswirtschaft wird gefördert durch die Landwirtschaftliche Rentenbank.

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