Bürgerrat – „Volkes Wille“ oder Paralleldemokratie der Ernährungsräte?

Ein Thema, das uns alle bewegt: Unsere Ernährung. Jetzt können Teilnehmer eines so genannten Bürgerrats als „Experten in eigener Sache“ sprechen und ihr Alltags- und Erfahrungswissen in die Entscheidungsfindung der Abgeordneten des Bundestags einbringen. Aber wie steht es mit der verfassungsrechtlichen Legitimation des Rates?

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Im Mai 2023 wurde von den Abgeordneten des deutschen Bundestags die Einsetzung eines Bürgerrates beschlossen: Das Gremium soll zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ die Perspektive der Bürger in die politische Debatte einbringen. Dabei sollen 160 ausgeloste Personen voraussichtlich ab September Fragen zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Haltungsbedingungen von Nutztieren, Produktion von Produkten, transparente Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung diskutieren. Außerdem stehen Fragen darüber an, welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll.

Ein Prozess der Entparlamentisierung?

Kritik gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Reihe: Das Konzept der repräsentativen Demokratie sei durch diesen Prozess der Entparlamentisierung in Gefahr, so die Union. Auch BVE-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff sieht die Einführung des Bürgerrats kritisch: „Das Grundgesetz sieht keine rätegestützten Entscheidungsprozesse vor! Die Ampel-Koalition unterminiert mit Rätestrukturen die Legitimation der Volksvertreter in der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie“, so Minhoff.

Repräsentativ ausgeloste Teilnehmer

Ein weiterer Kritikpunkt stellt die Zusammensetzung des Bürgerrats dar: Parlamentspräsidentin Bärbel Bas ermittelte die 160 Mitglieder in einer „Bürgerlotterie“, der wiederum ein Stufenverfahren vorausging. Dafür wurden im Juni knapp 20.000 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme eingeladen. Davon bekundeten 2.200 ihr Interesse, Teil des Forums zu werden. Ein Algorithmus entwickelte daraus 1.000 mögliche Zusammensetzungen eines Bürgerrates nach den vom Bundestag bestimmten Kriterien des Alters, des Geschlechts, der regionalen Herkunft, der Ortsgröße und des Bildungshintergrunds. Bas loste schließlich eine dieser Varianten des Bürgerrats mit 160 Teilnehmern aus: Unter den Mitgliedern sind nach Angaben der Organisatoren auch 2,5 Prozent Veganer, 10 Prozent Vegetarier und die Akademiker mit rund 26 Prozent vertreten.

„Die Räte sollen einerseits aus 160 gezielt ausgewählten Personen, aber gleichzeitig aus vermeintlich repräsentativ ‚ausgelosten‘ Menschen bestehen. Schon dies zeigt die Willkür des Verfahrens. Uns erschließt sich weder, wie die Zahl 160 zustande kommt, noch, wie bei einer zufälligen Auslosung alle Ernährungs- und Lebensstile in ihrer tatsächlich prozentualen Ausprägung berücksichtigt werden sollen“, kritisiert Christoph Minhoff die Zusammensetzung des Rates. Außerdem steht zu befürchten, dass Menschen, die sich Zeit für die Mitarbeit in einem solchen Gremium nehmen, nicht repräsentativ sind, sondern ein besonderes Interesse beim Thema Ernährung mitbringen, dass ihre Sichtweise auf das Thema beeinflusst.

Manipulationsgefahr durch gewählte Experten

Irritierend findet Minhoff ebenfalls die Beratung des Bürgerrates: Zur Vermittlung des erforderlichen Wissens und einer fachlich fundierten Begleitung sollen Experten aus Wissenschaft und Praxis bereitgestellt werden. Zwar sollen die Beratungen laut Bundestag durch eine inhaltlich neutrale Moderation geleitet werden, es sei aber „fraglich, wie ausgerechnet beim emotionalen Thema Ernährung eine ‚neutrale Person‘ diesen Bürgerrat führen soll, welche ‚Experten‘ derjenige beruft und wer überhaupt die Themen festlegt“, so Minhoff. „Hier ist jedweder Manipulation Tür und Tor geöffnet. Es steht zu befürchten, dass die auch im Bereich der Ernährungsaktivisten bestehenden Netzwerke ihre Agenda auf neuem Wege durchzusetzen versuchen.“

Unbezifferte Gesamtkosten

Bis zum 29. Februar 2024 soll der Bürgerrat dem Deutschen Bundestag seine Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens vorlegen. Anschließen soll der Bericht dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur federführenden Beratung zu überwiesen werden. Bis dahin erhalten die Teilnehmer eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzungstag in Präsenz und 50 Euro pro Sitzung in digitaler Form. Im Bundeshaushalt 2023 stehen drei Millionen Euro für die Durchführung von Bürgerräten zur Verfügung, die Gesamtkosten lassen sich laut Bundestag aber bisher noch nicht genau beziffern.

Bürgerrat untergräbt Kommissionen

Ob der Bürgerrat Ernährung als „Spiegel unserer Gesellschaft“ letztendlich ein wichtiger und richtiger Weg ist, um über Themen wie Kennzeichnungen zur Umweltverträglichkeit, zu Tierwohlstandards, dem Steuerrahmen bei Lebensmitteln oder Lebensmittelverschwendung zu urteilen, ist fraglich. „Neben der Borchert-Kommission, der Zukunftskommission Landwirtschaft und der jüngst vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft eingesetzten Kommission zur Entwicklung einer Ernährungsstrategie werden und wurden alle Aspekte des jetzt für einen ‚Ernährungsrat‘ gesetzten Themas bearbeitet“, bekräftigt Minhoff.

Seine Meinung: Es fehlt nicht an Erkenntnis, sondern an Umsetzung!

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