BVE-Stellungnahme zu den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Zusammenfassung

Die deutsche Ernährungsindustrie ist mit über 638.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von knapp 186 Mrd. EUR die fünftgrößte Industriebranche in Deutschland und führend in Europa. Die Branche verfolgt die Entwicklungen in der Ukraine mit großer Sorge und unterstützt vollumfänglich die Sanktionen der Bundes- regierung und der Europäischen Union infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Die deutsche Ernährungsindustrie sieht die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur der Lebensmittellieferketten sowie die Versorgungssicherheit der Bevölkerung als Priorität an. Die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg haben die Ernährungsindustrie in die wirtschaftliche Stagnation und die größte Rohstoffkrise der Nachkriegszeit geführt. Damit die Unternehmen weiterhin Beschäftigung und Wachstum am Standort Deutschland sicherstellen können, müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Produktionsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und die Planungssicherheit zu verbessern.

Die Energiepreisentwicklung ist existenzgefährdend für die Ernährungsindustrie. Ein Versorgungsengpass mit Energie oder Kostensteigerungen für Energie, die die Aufrechterhaltung der Lebensmittelproduktion gefährden, müssen von der Politik ausgeschlossen werden. Es braucht zwingend eine Entkoppelung von Gas- und Strompreisen sowie eine weitere Reduktion der staatlich veranlassten Preisbestandteile bei Strom und Gas. Die Politik muss eine Zusage erteilen, dass im Winter 2022/2023 und darüber hinaus genug Energie für die Lebens- mittelproduktion zur Verfügung steht und der Anwendungsbereich des Zuschussprogramms für energieintensive Branchen erweitert wird. Es muss in den Notfallplänen der Bundesnetzagentur für die Gasmangellage sicher- gestellt werden, dass im Fall von Versorgungsengpässen mit Energie die systemrelevante Infrastruktur der Lebensmittel- und Getränkeproduktion mitsamt den notwendigen Vorprodukten (insb. Verpackungen) aufrechterhalten werden kann.

Den von den Energiepreis- und Produktionskostensteigerungen besonders betroffenen Unternehmen muss Unterstützung gewährt werden, auch um den Druck auf die Endverbraucherpreise abzumildern. Die Ernährungs- industrie fordert laufende und anstehende Regulierungsvorhaben im Rahmen des EU Green Deal auf ihre Auswirkungen auf die Resilienz der europäischen Lebensmittellieferketten zu überprüfen. Bürokratische Maß- nahmen, insbesondere Dokumentationspflichten, die die Unternehmen in der derzeit höchst angespannten Marktsituation zusätzlich belasten, sind aufzuschieben. Ein Belastungsmoratorium muss umgesetzt werden, das den Mittelstand entlastet. Diskriminierende Mehrwertsteueranpassungen bei Lebensmitteln sind konsequent auszuschließen und eine Entlastung einkommensschwacher Haushalte von der Inflation vielmehr durch gezielte staatliche Leistungen herbeizuführen.

Der Temporary Crisis Framework der EU muss über 2022 hinaus verlängert werden. Dabei sind unbürokratische Entlastungen für die Unternehmen der Ernährungsindustrie im Temporary Crisis Framework einzuschließen und eine Anpassung vorzunehmen, dass anstatt Betriebsverluste nachweisen zu müssen, es ausreichen sollte, wenn die Sektoren Ergebniseinbußen infolge der Energiepreiskrise nachgewiesen wird. Eine Bewertung der Beihilfen auf der Ebene der Produktionsstätten sollte ermöglicht werden, da in einigen Fällen Betriebsverluste in einem Teil des Unternehmens durch Bruttogewinne in einem anderen Bereich ausgeglichen werden können.

Der befristete Krisenrahmen der EU gibt derzeit vor, dass Energiebeihilfen für Unternehmen im Annex I der CEEAG möglich seien, die zusätzlich Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe a erfüllen (siehe Randnummer 53 a). Der Anhang „Besonders betroffene Sektoren und Teilsektoren“ sollte um alle Sektoren der Versorgungskette der Agrar- und Ernährungswirtschaft erweitert werden. Die BVE spricht sich dafür aus, dass der ganze Art. 17 Maßstab für einen Beihilfenzugang sein muss, da dann auch die Vereinbarung der Deutschen Wirtschaft zur Energieeffizienz, die dem Spitzenausgleich zugrunde liegt, den Zugang eröffnen könnte. Diese Vereinbarung stützt sich auf Art. 17 Abs. 1 b) und würde notwendige Beihilfen auch für Unternehmen ermöglichen, die die Schwellenwerte des Art. 17 Abs. 1 a) nicht erreichen. Sollte die Ausdehnung der Energiekostenzuschüsse über die KUEBLL-Liste hinaus nicht möglich sein, sind alternative Energiekostenzuschüsse für die Lebensmittelindustrie zu prüfen.

Die Sicherung der Verfügbarkeit von Rohstoffen und Produktionsmitteln für die Lebensmittelproduktion zu bezahlbaren Preisen muss gewährleistet bleiben. Nicht zu kompensierende Lieferengpässe gefährden in einigen Bereichen der Ernährungsindustrie derzeit die Aufrechterhaltung der Produktion.

Besorgniserregend sind die Entwicklungen in der europäischen Düngemittelproduktion, wo aufgrund der gestiegenen Energiepreise die Produktion stark gedrosselt wurde. Diese Stilllegungen führen zu einer Verknappung von CO2, das bei der Ammoniakproduktion als Nebenprodukt anfällt. In einem Kaskadeneffekt wirken sich diese Engpässe auf die Ernährungsindustrie aus, die CO2 für ihre Produktionsprozesse benötigt. Die wesentlichen CO2-Lieferanten der Ernährungsindustrie haben bereits Force Majeure angemeldet, nur noch 30 bis 40 % der üblichen Liefermengen sind derzeit am Markt verfügbar. Besonders vulnerabel in der Betroffenheit des CO2-Mangels ist unter Tierwohlgesichtspunkten die Schweineschlachtung.

Die Ernährungsindustrie fordert zur Sicherung der Lieferketten und Vermeidung weiterer Verknappungen im Angebot sowie Bekämpfung der Inflation bei Rohstoffen die Aufrechterhaltung des internationalen Agrar- und Lebensmittelhandels zur Vermeidung weiterer Angebotsverknappungen und daraus resultierender Preisstei- gerungen oder Versorgungsengpässe. Auch sind kurzfristige Maßnahmen zu ergreifen, um eine bevorzugte Belieferung der kritischen Infrastruktur der Ernährungsindustrie mit CO2 für die Lebensmittel- und Getränke- produktion sicherzustellen. Darüber hinaus sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Ursache des CO2-Engpasses, die explodierenden Energiepreise, und damit die massiven Auswirkungen auf die Lebensmittel- produktion abzumildern (bspw. subventionierte Energiekosten für die Düngemittelindustrie).

Kriegs- und krisenbedingte Engpässe müssen als „unvorhersehbare und unverschuldete Notlage“ anerkannt werden, damit sanktionsfrei das Inverkehrbringen von nicht korrekt gekennzeichneter Ware nach Verhältnis- mäßigkeitsgesichtspunkten ermöglicht wird. Eine EU-weit verbindliche und harmonisierte Rechtslage bei der Zulassung von Erleichterungen bei der Kennzeichnung ist aufgrund der Verpackungsmangellage sicherzustellen, wenn kurzfristig nicht mehr verfügbare Rohstoffe ersetzt werden.

Maßnahmen für eine vereinfachte, alternative Beschaffung am Weltmarkt müssen ergriffen und Spielräume für europäische und nationale Einfuhranforderungen (bspw. im Fall von Rückstandshöchstmengen oder GVO-Freiheit von Futtermitteln) genutzt werden. Zollerleichterungen für Agrarrohstoffimporte müssen ernsthaft geprüft und die Börsen für Agrarrohstoffe offengehalten werden. Ausfuhrbeschränkungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel im Binnenmarkt sind auf Konformität mit den Binnenmarktvorschriften zu prüfen. Um Transport- engpässe in der EU zu beseitigen, leere Regale sicher aufzufüllen, Menschen in Not zu erreichen oder die Umverteilung von Lebensmitteln und Getränken zu vereinfachen, die den vorgesehenen Markt nicht erreichen können, sind geschützte „grüne Fahrspuren“ / green lanes einzuführen und der herrschende Fahrermangel beseitigt werden.

Alle möglichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Agrarpolitik sind zu prüfen, die zu einer Entspannung der Marktlage beitragen. Der Lebensmittelproduktion ist dabei mit Blick auf Nutzungskonkurrenzen stets Vorrang gegenüber der Biokraftstoff- bzw. -energieerzeugung zu gewähren. Nachhaltige Synergien in der Biokraftstoffherstellung, bspw. für die Futtermittelproduktion, sind zu nutzen. Der Beimischungszwang von Agrarrohstoffen ist zu stoppen.

Die bestehenden und weiter absehbaren Kostensteigerungen in der Lebensmittelproduktion können nicht von den Lebensmittelherstellern allein getragen werden. Eine Verteilung der Kostenlast entlang der Kette auch bis zum Verbraucher ist notwendig, um die Ertragslage der Produktionsbetriebe nicht zu gefährden und Produktion rentabel aufrecht erhalten zu können. Die Politik muss im Blick haben, dass mit der Konzentration im Lebens- mitteleinzelhandel eine Verhandlungsstärke verbunden ist, die für die Hersteller häufig zu diskriminierenden Auswirkungen und einer unzureichenden Verteilung der Kostenlast führt. Daher muss der Gesetzgeber ein Korrektiv erlassen, durch das gewährleistet wird, dass gesetzliche Preisanpassungen für bestimmte Güter wie z. B. Gas, in den Lieferketten von Verbrauchern des verarbeitenden Gewerbes eine entsprechende Berücksichti- gung finden, da ansonsten energiewirtschaftliche Insolvenzrisiken einfach in andere Wertschöpfungsketten verlagert werden. Auch ist der Rechtsrahmen derart anzupassen, dass im Fall von Lieferengpässen, die nachweislich mit der derzeitigen Krisensituation zusammenhängen und die Produktions- und Lieferfähigkeit der Nahrungsmittelhersteller beeinträchtigen, eine Suspendierung der Lieferverpflichtungen ohne Rechtsnachteile für die Lieferanten möglich wird. Auch muss eine kartellrechtliche Prüfung nationaler und europäischer Einkaufs- allianzen erfolgen, um den Missbrauch von Marktmacht auszuschließen. Das gestiegene Maß an Over- compliance am Markt muss zur Aufrechterhaltung der Versorgungslage abgebaut werden. Schließlich sollte die Politik einen Dialog zwischen den Lieferkettenakteuren moderieren, um anhand konkreter Beispiele die Not, in der sich viele Hersteller befinden, verständlich zu machen.

Die Politik ist aufgefordert, die Weitergabe der extrem gestiegenen Produktionskosten im Absatzkanal der öffentlichen Beschaffung zu erleichtern. So muss eine Anpassung der Pflegesätze an die gestiegenen Produktionskosten für Lebensmittel umgesetzt werden, da andernfalls aufgrund der fehlenden Preisspielräume der Lieferanten und Großverbraucher-Dienste die quantitativ und qualitativ ausreichende Versorgung gefährdet wird.

Für Unternehmen, die besonders vom Wegbrechen des Geschäftes mit Russland oder der Ukraine betroffen sind, sind unbürokratische Hilfen sowie Überbrückungskredite bereitzustellen. Die Wirtschaft muss auch bei der schnellen Erschließung alternativer Absatzmärkte sowie Standortalternativen zu Russland unterstützt werden. Die Politik muss auch eine klare Stellungnahme zur Legitimität des nicht-sanktionierten Russlandgeschäftes im Agrar- und Lebensmittelsektor angesichts der Welternährungssituation sowie der geforderten unternehmerischen Sorgfaltspflichten abgeben. Der Geschäft sverkehr mit nicht-sanktionierten Waren, insb. Lebensmitteln, ist zwingend aufrechtzuerhalten, sowohl was die Warenströme aber auch die Finanzierungskanäle betrifft. Die Zollabfertigungen für nicht-sanktionierte Güter sind zu beschleunigen. Die Einschränkungen der Transport und Logistikwege nach Russland für nicht-sanktionierte Güter müssen unbürokratisch gestaltet werden.

Das vollständige Moratorium zur Energie- und Rohstoffkrise in der Ernährungsindustrie in Folge des Ukrainekrieges (Aktuelle Lage – Positionen – Forderungen) finden Sie in der Download-PDF.