Was ist die Antwort der Ernährungsindustrie auf den Green Deal der EU? Wie kann die Branche zügig messbare Beiträge zum Erreichen der Klimaziele, zur Kreislaufwirtschaft und für resiliente regionale Wirtschaftsstrukturen und tragfähige globale Geschäftsbeziehungen leisten? Eine etwas ungewöhnliche "Koalition der Willigen" schließt sich zu einem Transformationslabor Ernährung zusammen. Was nun folgt, sind zwei Jahre intensives Arbeiten an Themen der Ernährungswende.
Was die Zusammenarbeit so besonders macht, erläutert Yvonne Zwick, Vorsitzende von B.A.U.M., dem Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften: "In diesem Transformationslabor arbeitet der in der Mitte der Wirtschaft verortete Branchenverband mit einem Pionier, einem Standardsetzer und einem Innovator für die ganzheitliche Geschäftsbilanz zusammen. Das ist ein Spiegel der aktuell sehr intensiv geführten Diskussionen, die zugleich die Situation am Markt reflektieren. Was ich mir davon erhoffe, sind akzentuierte und zugleich für Einsteigerunternehmen praktikable Hilfestellungen für Versorgungssicherheit, gesunde Ernährung und Genuss innerhalb planetarer Belastungsgrenzen."
Die Herausforderung ist spätestens seit dem jüngsten Update des Weltklimarats klar: In recht kurzer Zeit muss die Ernährungswende gelingen, oder es wird ungemütlich – in globaler Dimension. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) e.V., das Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung (ZNU) der Universität Witten/Herdecke, die Regionalwert Leistungen GmbH und B.A.U.M. e.V. werden themensetzend aktiv, um Antworten auf diese Herausforderung zu suchen. In den kommenden Wochen und Monaten folgt eine Workshop-Reihe, um eine feste Kerngruppe zu bilden, die den Prozess partnerschaftlich trägt und konkrete Lösungen erarbeitet. B.A.U.M. stellt hierfür als Plattform die für alle Unternehmen offene Initiative Wirtschaft pro Klima zur Verfügung.
"Die Plattform und der gemeinsame Austausch mit Stakeholdern ist immanent wichtig, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und Brücken zu bauen. Die BVE hat ein Interesse an Lösungen zu Nachhaltigkeitsthemen, die von den Unternehmen in der Praxis umsetzbar sind", betont Stefanie Sabet, Geschäftsführerin und Leiterin des Brüsseler Büros der BVE. Dies soll im Transformationslabor Ernährung auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, guter unternehmerischer Praxis und auf innovative Weise geschehen. Wie wird handhabbar, was Planet, Politik und Gesellschaft von Unternehmen verlangen? Das sei die zentrale Frage. Kernziel: ein klimaneutrales Europa. Die mittlere Erwärmung von 3 °C bedeute laut Prognosen der EU-Kommission Verluste von 190 Mrd. Euro jährlich und um 20 % steigende Lebensmittelpreise. Lebensstile, Ernährung und planetare Grenzen müssten gemeinsam betrachtet werden. Nicht nur Produktion, sondern auch Konsum leistet einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit. Der Weg zur Umsetzung der Agenda 2030 sei dabei noch weit, sagt Stefanie Sabet: "Verbände sind Multiplikatoren und Motoren. Die Unternehmen sind durch den Green Deal gefordert, hier mehr zu tun, als es die Gesetzgebung bislang vorgibt." Und das sei nicht wenig – allein 50 Handlungsfelder gibt es im Green Deal, der mit der "Farm to Fork"-Strategie auf einen neuen ganzheitlichen Rechtsrahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme abzielt.
Christian Hiß, Geschäftsführer der Regionalwert Leistungen, sieht als zentrale Herausforderung die betriebswirtschaftliche Perspektive – diese werde den gestiegenen Risiken durch Klimaveränderungen nicht mehr gerecht. In der Vergangenheit sei das Thema jedoch zu sehr aus rein sozial-ökologischer Sicht bearbeitet worden, so Hiß. Leistungen der Unternehmen für Umwelt und Resilienz hätten aktuell keinen Wert in der Betriebsbilanz. Andererseits würden sie nur bereitgestellt, wenn sie finanziert würden, und das erfordere eine umfassende Risikobilanz. Nachhaltigkeit und Resilienz in der Bilanz sichtbar zu machen, dazu leistet die Methode "Richtig Rechnen", erprobt im Innovationsprojekt Quartavista, einen Beitrag. Die Grundidee: Leistungen werden vom Markt, durch Kompensationsgelder und öffentliche Mittel (GAP) bezahlt. Das wirkt potenziell auf Lebensmittelpreise, indem hochwertige Lebensmittel mit positiver Leistungsbilanz günstiger werden. "Ziel ist die Synthese von Nachhaltigkeits- und HGB-Bilanz. Die Perspektive ist nicht True Cost Accounting, sondern Sustainability Performance Accounting. Das verändert die Blickrichtung und Bewertung fundamental", so Hiß.
Dr. Christian Geßner und Dr. Axel Kölle, Gründer und Leiter des ZNU (Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung) der Universität Witten/Herdecke laden am 10. Juni 2022 von 9 bis 12 Uhr zum ersten Workshop ein, der sich der Klimabilanzierung widmet. Der in der Branche bereits gut etablierte ZNU-Standard "Nachhaltiger Wirtschaften" wird zum Jahreswechsel 2022/2023 einer Revision unterzogen und integriert in der Weiterentwicklung aktuelle Regularien mit Blick auf Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), unternehmerische Sorgfaltspflichten (CSDDD), Ausweitung der Berichtspflicht (CSRD), Green Claims u. v. a. Dr. Christian Geßner sieht große Herausforderungen bei Fragen der einheitlichen und praktikablen Wirkungsmessung und betont, dass KPI-getriebene Systeme in mittelständischen Unternehmen aufgrund aufwändiger Datenerhebungsprozesse und der Unternehmenskultur nicht einfach übergestülpt werden können. Im ersten Workshop werden vor diesem Hintergrund praktikable Ansätze zur Weiterentwicklung diskutiert: Wie oft sollte eine Bilanz erstellt werden? Wie gehen Unternehmen mit Scope 3 um? Inwieweit sind Klimaneutralitätsziele sinnvoll und wie können etablierte Standards und Zertifizierungen einen Beitrag zur Ernährungswende leisten?
An den ersten Workshop schließen sich weitere fünf Workshops an, die je von einem der Partner gehostet werden (s. Zeitstrahl unter "Ausblick" auf Wirtschaft pro Klima). Damit verbunden ist die inhaltliche und technische Vorbereitung. Ende des 1. Quartals 2023 wird es eine große Auftaktveranstaltung auf Einladung der BVE geben. Einige Themen sind als Wildcards gesetzt, um sie im Dialog der Kooperationspartner abhängig von der aktuell dynamischen Entwicklung und den Bedarfen der teilnehmenden Unternehmen festlegen zu können.
BVE, B.A.U.M., ZNU und Regionalwert Leistungen sind offen für weitere Kooperationspartner. Interessenten melden sich bitte bei Jan Koch, Projektmanager des Transformationslabors Ernährung: jan.koch@baumev.de