Herr Dr. Heinz, woran erkennen Sie in einer mittelständischen Lebensmittelproduktion, wo Potenzial zur Vermeidung von Verlusten liegt?
Dr. Volker Heinz: Viele mittelständische Betriebe in der Lebensmittelproduktion arbeiten heute bereits sehr verantwortungsvoll und haben eine große Sensibilität für das Thema entwickelt. Verluste zu vermeiden, ist längst Teil der täglichen Praxis – sei es durch präzise Planung, optimierte Anlagentechnik oder einen sehr bewussten Umgang der Mitarbeitenden mit Rohstoffen. Das zeigt, wie hoch der Stellenwert des Themas in der Branche inzwischen ist.
Um zusätzliche Potenziale zu erkennen, reicht es deshalb nicht mehr, nur „offensichtliche“ Verschwendungen aufzudecken. Hier braucht es einen engen Austausch mit den Betrieben und eine detaillierte Analyse der Prozesse – vom Wareneingang über die Verarbeitung bis hin zur Verpackung und Distribution. Oft sind es kleine Stellschrauben, die in Summe große Wirkung entfalten können, zum Beispiel bei Schnittstellen zwischen einzelnen Produktionsschritten oder bei der intelligenten Nutzung von Nebenströmen.
Lebensmittelverluste entstehen oft systemisch. Wie gelingt es, solche Schwachstellen frühzeitig zu erkennen und zu beheben?
Dr. Volker Heinz: Systemische Ursachen sind meist nicht auf einen einzelnen Punkt zurückzuführen, sondern betreffen ganze Prozessketten. Am DIL arbeiten wir mit Methoden der Prozessanalytik und digitalen Zwillingen, um Abläufe transparent zu machen und zu simulieren. So lassen sich Engpässe oder fehleranfällige Arbeitsschritte frühzeitig identifizieren. Ein Beispiel ist das Projekt ReproFly, bei dem ein hochautomatisiertes Zuchtsystem für Insekten entwickelt wird. Dort werden Prozessdaten kontinuierlich erfasst und genutzt, um Verluste gezielt zu vermeiden. Dieses Prinzip – Abläufe datenbasiert überwachen und optimieren – lässt sich auch auf Lebensmittelprozesse übertragen, um systemische Verluste Schritt für Schritt zu reduzieren.
Ein klassisches Problem in der Praxis: Produktwechsel auf der Linie. Gibt es DIL-Lösungen, um Anfahrverluste oder Reinigungsschritte smarter zu steuern?
Dr. Volker Heinz: Produktwechsel sind in der Lebensmittelindustrie immer mit Materialverlusten verbunden. Am DIL untersuchen wir verschiedene Ansätze, um diese Verluste zu minimieren. Ein Schwerpunkt liegt in der Inline-Sensorik: Echtzeitmessungen von Produkteigenschaften wie Feuchte oder Viskosität ermöglichen eine schnelle Prozessstabilisierung, sodass weniger Ausschuss beim Anfahren entsteht. Auch bei der Entwicklung von automatisierten Schneid- und Portioniersystemen konnten wir zeigen, dass durch höhere Präzision Verluste beim Produktwechsel deutlich reduziert werden.
Ein praktisches Beispiel ist der am DIL entwickelte Vacuum Slicer Greifer: Er reduziert die Reststücke beim Schneiden von Wurstwaren von etwa 15 mm auf nur rund 3 mm. Damit entstehen mehrere zusätzliche Scheiben pro Einheit, die sonst im Abfall gelandet wären. Neben der Einsparung an Rohmaterial werden so auch Kosten gesenkt und Reinigungsintervalle effizienter gestaltet.
Wie weit ist die Entwicklung bei Sensoren, die Qualitätsabweichungen in Echtzeit erkennen?
Dr. Volker Heinz: Die Entwicklung ist in den letzten Jahren deutlich vorangekommen. Während früher vor allem visuelle Systeme eingesetzt wurden, die lediglich Oberflächenfehler wie Verfärbungen oder Bruchstellen erkannten, können moderne Sensoren heute sehr viel tiefergehende Informationen liefern. Hyperspektralkameras beispielsweise erfassen nicht nur das sichtbare Bild, sondern auch spektrale Signaturen, die Rückschlüsse auf innere Eigenschaften wie Wasser- oder Fettgehalt erlauben. Kombiniert mit KI-gestützten Datenmodellen wird es möglich, Abweichungen vom Sollzustand in Echtzeit zu identifizieren und unmittelbar in den Prozess einzugreifen.
Damit verändert sich die Qualitätssicherung grundlegend: Anstatt Stichproben zu ziehen, kann die gesamte Charge überwacht werden. Fehlerhafte Rohwaren oder Produkte werden schon während der Verarbeitung erkannt und aussortiert, bevor sie in die nächste Prozessstufe gelangen. Das reduziert Ausschuss, erhöht die Prozesssicherheit und entlastet gleichzeitig das Fachpersonal, das bisher viele dieser Entscheidungen manuell treffen musste. Besonders für mittelständische Betriebe eröffnet dies neue Möglichkeiten, da die Systeme zunehmend kompakter, mobiler und leichter in bestehende Produktionslinien integrierbar sind.
Wie verändern Robotik und Automatisierung das Abfallmanagement? Wo stößt klassische Automatisierung an ihre Grenzen?
Dr. Volker Heinz: Robotik und Automatisierung eröffnen völlig neue Möglichkeiten im Abfallmanagement. Vakuumgreifer, automatisierte Schneidesysteme oder KI-gesteuerte Sortierroboter können monotone Arbeitsschritte übernehmen, präziser arbeiten als der Mensch und dadurch Ausschuss deutlich senken.
Die Grenzen klassischer Automatisierung liegen vor allem in der Verarbeitung von Naturprodukten. Anders als standardisierte Industriekomponenten weisen Lebensmittel wie Fleischstücke, Obst oder Gemüse starke Variabilitäten in Form, Größe, Beschaffenheit oder Oberflächenstruktur auf. Starre Systeme, die auf exakte Wiederholungen ausgelegt sind, können solche Unterschiede nur schwer handhaben. Probleme treten beispielsweise dann auf, wenn Produkte nicht exakt positioniert sind, unterschiedliche Konsistenzen aufweisen oder unerwartete Fremdpartikel im Prozess auftreten.
Moderne Ansätze setzen deshalb auf flexible, sensorunterstützte Robotiksysteme, die mit adaptiven Greifern und intelligenter Bildverarbeitung auf diese Variabilität reagieren können. Dadurch lassen sich auch komplexe Arbeitsschritte wie das Sortieren, Portionieren oder Ausschleusen fehlerhafter Produkte effizient automatisieren – ein entscheidender Schritt, um Verluste in der Lebensmittelproduktion nachhaltig zu reduzieren.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz konkret in Ihren Projekten? Was kann KI besser als ein Produktionsleiter?
Dr. Volker Heinz: KI ermöglicht es, große Datenmengen in Echtzeit zu verarbeiten und Abweichungen im Prozess sofort zu erkennen. So lassen sich Fehlerquellen frühzeitig identifizieren und Verluste reduzieren. Besonders stark ist KI darin, Muster über lange Zeiträume sichtbar zu machen und komplexe Zusammenhänge zwischen Prozessparametern aufzudecken – etwa wenn Veränderungen in der Rohstoffqualität mit Schwankungen bei Endproduktfarbe oder -textur in Verbindung gebracht werden können.
Wir arbeiten in diesem Bereich eng mit Partnern wie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), Agrotech Valley und der Hochschule Osnabrück zusammen. Gemeinsam entstehen praxisnahe Lösungen, die menschliche Erfahrung und maschinelle Datenanalyse verbinden und dadurch die Prozessführung deutlich robuster machen.
Ein Beispiel ist der Einsatz optischer Qualitätskontrolle mit Hyperspektral- und RGB-Kamerasystemen in Kombination mit KI. Damit lassen sich Schadstellen präzise erkennen, Ausschuss verringern und Ressourcen schonen.
Nicht jeder Betrieb kann ein digitales Ökosystem aufbauen. Welche Lösungen empfehlen Sie kleineren Unternehmen?
Dr. Volker Heinz: Es braucht nicht immer die große Lösung. Viele Mittelständler profitieren schon von modularen Einheiten, die sich in bestehende Linien integrieren lassen – z. B. mobile Sensorik oder KI-gestützte Qualitätssicherungssysteme. In Pilotprojekten bieten wir praxisnahe Demonstratoren an, die zeigen, dass ein Einstieg in die Digitalisierung auch mit kleinen Schritten möglich ist.
Welche technischen Grenzen gibt es aus Ihrer Sicht bei der Vermeidung von Verlusten?
Dr. Volker Heinz: Eine hundertprozentige Vermeidung von Verlusten wird es nicht geben – Naturprodukte sind schlicht zu variabel. Schon kleine Unterschiede in Größe, Form oder Zusammensetzung führen dazu, dass Prozesse angepasst werden müssen und Materialverluste entstehen. Hinzu kommt die Produktsicherheit: Reinigungsschritte oder Prozessunterbrechungen lassen sich nicht vollständig vermeiden, ohne hygienische Risiken einzugehen. Auch die Wirtschaftlichkeit setzt Grenzen – bestimmte Sensor- oder Robotiksysteme sind technisch machbar, aber noch nicht flächendeckend bezahlbar. Schließlich besteht oft eine Lücke zwischen Pilotmaßstab und industriellem Dauerbetrieb: Manche Lösungen funktionieren hervorragend im Labor, stoßen aber im 24/7-Einsatz noch an ihre Grenzen.
Was braucht es, damit gute Ideen auch in der Fläche ankommen und nicht in Pilotanlagen steckenbleiben?
Dr. Volker Heinz: Es braucht Vertrauen, klare Best-Practice-Beispiele und vor allem die Einbindung von Industriepartnern von Anfang an. Das DIL versteht sich hier als Brücke: Wir entwickeln Technologien mit Unternehmen gemeinsam bis zur Anwendung, begleiten den Transfer und zeigen die wirtschaftlichen Vorteile.
Was wünschen Sie sich von Politik, Industrie und Wissenschaft, um weitere Fortschritte beim Thema Food Waste in der Verarbeitung zu erzielen?
Dr. Volker Heinz: Entscheidend ist, dass Politik, Industrie und Wissenschaft ihre Anstrengungen besser verzahnen. Es braucht gemeinsame Initiativen, die Forschung, Pilotierung und Transfer in die Breite verbinden. Förderprogramme sollten so gestaltet sein, dass neue Technologien nicht in der Pilotphase steckenbleiben, sondern in den Betrieben tatsächlich ankommen. Gleichzeitig müssen Unternehmen den Mut haben, innovative Ansätze zu erproben – und die Wissenschaft sollte ihre Erkenntnisse so aufbereiten, dass sie in der Praxis unmittelbar nutzbar sind. Nur wenn alle Akteure zusammenarbeiten, lassen sich die Potenziale zur Vermeidung von Verlusten wirklich ausschöpfen.