Hochverarbeitete Lebensmittel: Warum die Kritik an der NOVA-Klassifikation wächst

Sind Tiefkühlpizza, Fruchtjoghurt und Babymilchpulver gesundheitsgefährdend? Nach der umstrittenen NOVA-Klassifikation gelten sie alle als "hochverarbeitet" und damit als problematisch. Der renommierte Lebensmittelchemiker Professor Thomas Henle widerspricht vehement. Die Einteilung sei wissenschaftlich nicht haltbar und transportiere reaktionäre Rollenbilder. Gemeinsam mit über 200 Wissenschaftlern fordert er, das System nicht mehr zu verwenden.

Stück Pizza mit geschmolzenem Käse als Beispiel für die Debatte um hochverarbeitete Lebensmittel und NOVA-Kritik

Die Diskussion über hochverarbeitete Lebensmittel ist zur Grundsatzfrage geworden. Während Studien vermeintliche Zusammenhänge zwischen „ultra processed foods“ und Krankheiten nahelegen, mehren sich warnende Stimmen, das zugrundeliegende Bewertungssystem NOVA sei unscharf, ideologisch aufgeladen und für eine fundierte Ernährungspolitik ungeeignet.

Professor Thomas Henle, Lebensmittelchemiker an der TU Dresden, gehört zu den prominentesten Stimmen der wissenschaftlichen Kritik der NOVA-Klassifikation. In einem ausführlichen Interview mit dem SPIEGEL rechnet er mit dem System ab und warnt vor dessen gesellschaftlichen Folgen. Seine Kernthese: Die Einteilung von Lebensmitteln nach ihrem Verarbeitungsgrad sei „wissenschaftlich nicht fundiert“ und basiere nicht auf objektiven Kriterien, sondern auf einer „Weltanschauung“.

NOVA-Kritik: Ein System voller Widersprüche

Die NOVA-Klassifikation, entwickelt vom brasilianischen Forscher Carlos Monteiro, teilt Lebensmittel in vier Gruppen ein: unverarbeitet oder minimal verarbeitet (Gruppe 1), verarbeitete Zutaten wie Zucker, Öl oder Salz (Gruppe 2), verarbeitete Lebensmittel wie Käse, Brot oder eingelegte Gurken (Gruppe 3) und schließlich hochverarbeitete Produkte, die vierte Gruppe der „ultra processed foods“.

Zentraler Kritikpunkt der NOVA-Kritik: Das System orientiert sich ausdrücklich nicht am Nährwert, sondern allein an Art, Umfang und Zweck der Verarbeitung. Entscheidend ist, wie weit sich ein Produkt von seinem ursprünglichen Zustand entfernt hat. Genau dieser Ansatz führt laut Fachleuten zu widersprüchlichen Ergebnissen.

So gilt Hafermilch nach NOVA als hochverarbeitet und damit als problematisch – obwohl sie als nachhaltige Alternative zu Kuhmilch gilt und im Nutri-Score mitunter mit der Bestnote A bewertet wird. „Das verwirrt die Verbraucher doch total“, kritisiert Henle.

Besonders brisant: Auch Säuglingsnahrung fällt in die Kategorie der hochverarbeiteten Lebensmittel. Dabei gehört getrocknetes Milchpulver zu den am strengsten kontrollierten Lebensmitteln überhaupt und hat historisch betrachtet maßgeblich zur Senkung der Kindersterblichkeit beigetragen. „Müttern, die nicht stillen können, wird nun aber suggeriert, sie würden ihre Babys gefährden“, so Henle. Ein weiteres Beispiel für die Inkonsistenz des Systems: Ein und dasselbe Vollkornbrot wird völlig unterschiedlich bewertet, je nachdem, ob es beim Bäcker gekauft oder verpackt im Supermarkt erstanden wird.

Warum Lebensmittelverarbeitung unverzichtbar ist

Dass Lebensmittelverarbeitung grundsätzlich notwendig und sinnvoll ist, wird in der öffentlichen Debatte häufig ausgeblendet. Der Lebensmittelverband Deutschland hat dazu umfassende Informationen zusammengestellt, die die Vorteile der Verarbeitung deutlich machen: Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherung, ermöglicht die Umsetzung individuell unterschiedlicher Lebensstile und verbessert auf kontrollierte Weise die Haltbarkeit und Nährstoffverfügbarkeit von Lebensmitteln.

Ein besonders wichtiger Aspekt: Verarbeitungstechniken wie das Erhitzen erhöhen nicht nur die mikrobiologische Sicherheit der Produkte, sondern können auch die Verfügbarkeit ernährungsphysiologisch wertvoller Substanzen steigern. Das Lycopin in Tomaten etwa wird durch hohe Temperaturen vermehrt freigesetzt. Die in Getreide enthaltene Phytinsäure, die die Aufnahme von Mineralien wie Eisen oder Zink verhindert, kann durch industrielle Verarbeitung erheblich reduziert werden.

Besonders Menschen mit besonderen ernährungsphysiologischen Bedürfnissen sind auf verarbeitete Lebensmittel angewiesen, etwa Personen mit Zöliakie, Säuglinge und Kleinkinder oder unterernährte ältere Menschen. „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sind für die Deckung des Ernährungsbedarfs bestimmter Bevölkerungsgruppen unerlässlich“, heißt es in den Ausführungen des Lebensmittelverbands.

Fehlende Evidenz in der NOVA-Klassifikation

Ein Kernargument der NOVA-Kritik ist die schwache wissenschaftliche Evidenz. Die meisten Studien, die einen Zusammenhang zwischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und Gesundheitsrisiken nahelegen, hätten laut Henle nur begrenzte Aussagekraft für kausale Zusammenhänge. „Das Problem vieler dieser Studien ist, dass sie keine Belege liefern, sondern lediglich auf Beobachtungen beruhen“, erklärt der Wissenschaftler.

Dass Menschen, die viele als „stark verarbeitet“ eingestufte Lebensmittel essen, häufiger übergewichtig seien, sei nicht überraschend, denn mitunter seien diese Lebensmittel hochkalorisch. „Wenn Sie vier Wochen lang nur Kopfsalat essen, bekommen Sie auch Probleme“, stellt Henle klar.

In einem offenen Brief, den Henle gemeinsam mit der Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel von der TU München verfasst hat, fordern die beiden Wissenschaftler, den Begriff „hochverarbeitete Lebensmittel“ im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr zu verwenden. Mehr als 200 Fachleute aus der Lebensmittelchemie und -technologie haben das Schreiben unterzeichnet. Ihre Argumentation: „Wissenschaft muss objektiv, neutral und überprüfbar sein. Die NOVA-Klassifikation und der Begriff ‚hochverarbeitete Lebensmittel‘ erfüllen diese Anforderungen nicht.“

Der Trugschluss vom Natürlichen

Ein zentrales Problem der NOVA-Debatte ist die romantische Verklärung des „Natürlichen“. „Was bedeutet natürlich überhaupt?“, fragt Henle im SPIEGEL-Interview. Schon ein gewaschener oder geschnittener Apfel sei technisch verarbeitet. „Es ist ein Trugschluss, dass alles, was naturbelassen ist, automatisch gut ist“, betont der Lebensmittelchemiker. Tatsächlich seien viele als natürlich wahrgenommene Lebensmittel roh ungenießbar oder sogar gesundheitlich riskant, wie etwa Bohnen und Kartoffeln.

Die Verarbeitung von Lebensmitteln ist daher nicht per se problematisch, sondern in vielen Fällen, wie bereits beschrieben, Voraussetzung für Sicherheit, Haltbarkeit und eine gute Nährstoffverfügbarkeit.

Reaktionäre Rollenmuster unter wissenschaftlichem Deckmantel

Besonders besorgniserregend findet Henle die gesellschaftlichen Implikationen der NOVA-Debatte. Er beobachtet, dass rechtskonservative Gruppen das System als „scheinbar wissenschaftliche Legitimation für ihre Überzeugungen nutzen“. In sozialen Medien und bestimmten Kreisen, etwa bei den sogenannten Tradwives, werde das Narrativ der hochverarbeiteten Lebensmittel instrumentalisiert. Tradwives sind Frauen, die sich auf traditionelle Rollenbilder zurückbesinnen.

„Gewisse Gruppen verklären mithilfe des NOVA-Systems die Hausmannskost und bringen Fertigprodukte in Verruf“, kritisiert Henle. Das klinge zunächst nach harmloser Nostalgie, habe aber eine riskante Kehrseite: „Sie transportieren unterschwellig die Botschaft, dass es die Aufgabe der Frau wäre, zu Hause zu kochen und für die Familie zu sorgen.“ So würden unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Gesundheitsfürsorge alte Rollenmuster und Erwartungen an weibliche Fürsorge wiederbelebt.

Fertiggerichte, die insbesondere Frauen in den vergangenen Jahrzehnten mehr Freiheit und Erwerbstätigkeit ermöglicht haben, würden plötzlich als Ausdruck von Bequemlichkeit oder Versagen dargestellt. Das könne Schuldgefühle erzeugen und alte Rollenmuster reaktivieren.

Industrie versus Ideologie

Kritiker werfen Henle und anderen NOVA-Skeptikern regelmäßig Industrienähe vor. Henle weist das zurück: Er habe persönlich nie Geld von der Industrie erhalten. Forschung an der TU Dresden werde zwar auch industriell gefördert, erfolge jedoch unter voller wissenschaftlicher Freiheit und mit transparenter Veröffentlichung aller Ergebnisse.

Tatsächlich kehrt sich der Vorwurf der Befangenheit um. Die NOVA-Klassifikation wurde von ihrem Begründer Monteiro mit einer „klar gesundheitspolitischen Diktion“ eingeführt, verbunden mit scharfer Kritik an großen Lebensmittelunternehmen. Monteiro selbst spricht davon, dass die ernährungswissenschaftliche Basis zur Beurteilung des Einflusses einer Prozessierung „eine schwindende Bedeutung“ habe, weil sie zu sehr auf Erkenntnissen der Biochemie des 19. und 20. Jahrhunderts gründe.

„Das ist Ideologie, eine Weltanschauung, aber keine objektive Wissenschaft“, urteilt Henle. Es werde eine neue reine Wissenschaft versprochen, frei von Industrieeinfluss, aber ohne solide, überprüfbare Methoden. Kritiker würden nicht mit sachlichen Argumenten widerlegt, sondern als von der Industrie beeinflusst diffamiert. „Das ist typisch für Ideologien, nicht für wissenschaftlichen Diskurs.“

Internationale NOVA-Kritik wächst

Die Kritik an NOVA ist international. Keine wissenschaftliche Fachgesellschaft in Europa oder Nordamerika nutzt die Klassifikation als Grundlage für Ernährungsempfehlungen. Die französische Behörde ANSES stellte fest, dass das Konzept der Ultraverarbeitung wissenschaftlich nicht ausreichend substantiiert sei. Auch der Nordische Ernährungsrat und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung kommen zu dem Schluss, dass Klassifikationen nach Verarbeitungsgrad derzeit keine geeignete Basis für Empfehlungen darstellen. Die British Nutrition Foundation plädiert ebenfalls für eine Orientierung an Nährstoffqualität und Gesamternährungsmustern.

Aktuelle politische Relevanz: EU-Plan für Herz-Kreislauf-Gesundheit

Zusätzliche politische Relevanz erhält die Kritik an der NOVA-Klassifikation, weil das Konzept zunehmend in politische Strategien einfließt. Ein Beispiel ist der im Dezember 2025 veröffentlichten EU-Plan zur Herz-Kreislauf-Gesundheit („Safe Hearts Plan“). Ziel der Europäischen Kommission ist es, Prävention, Früherkennung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu stärken. Im Bereich Prävention legt der Plan einen starken Fokus auf Ernährung und rückt dabei erneut die sogenannten „hochverarbeiteten“ Lebensmittel in den Mittelpunkt.

Der Lebensmittelverband warnt davor, wissenschaftlich umstrittene Konzepte wie NOVA als Grundlage für politische Steuerungsmaßnahmen zu nutzen. Entscheidend für die Gesundheit sei nicht der Verarbeitungsgrad einzelner Produkte, sondern das gesamte Ernährungsmuster. Pauschale Steuern oder Abgaben auf sogenannte hochverarbeitete Lebensmittel seien daher nicht zielführend.

Positiv bewertet der Lebensmittelverband hingegen das Bekenntnis der Kommission zur Zusammenarbeit und die Anerkennung der Reformulierungsleistungen der Branche. Die Lebensmittelwirtschaft arbeitet seit Jahren an weniger Salz, Zucker und gesättigten Fettsäuren, bestätigt etwa durch das Produktmonitoring des Max-Rubner-Instituts. Reformulierung, Innovation und Aufklärung seien wirksamere Hebel als pauschale Verbote oder ideologisch geprägte Klassifikationen.

Fazit: Zurück zur evidenzbasierten Wissenschaft

Die Debatte um hochverarbeitete Lebensmittel zeigt exemplarisch, wie schnell wissenschaftlich nicht fundierte Konzepte öffentliche Wahrnehmung prägen können, mit weitreichenden Folgen für Verbraucher, Industrie und Gesellschaft. Was als Verbraucherschutz daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ideologisch motiviertes Klassifizierungssystem, das mehr Verwirrung stiftet als Klarheit.

„Ich werbe für mehr Gelassenheit“, sagt Thomas Henle. Gesundheit entstehe nicht durch die Vermeidung einzelner Lebensmittelkategorien, sondern durch ausgewogene Ernährung, Bewegung und aufgeklärte Entscheidungen im Alltag.

Die BVE teilt diese Einschätzung und setzt sich für eine wissenschaftliche fundierte Ernährungspolitik ein. Dafür braucht es eine klare, evidenzbasierte Sicht auf Nährstoffe und Lebensmittelqualität, einen nüchternen Blick auf die Vorteile und Risiken unterschiedlicher Verarbeitungstechnologien und das Bewusstsein, dass gute Ernährung heute aus aufgeklärten Entscheidungen unter realen Lebensbedingungen entsteht.

Download: Offener Brief: Plädoyer gegen die Verwendung der Begrifflichkeit „hochverarbeitete Lebensmittel“ und der NOVA-Klassifizierung