Die Lebensmittelindustrie gehört zu den tragenden Säulen der deutschen Grundversorgung. Doch ihr Wandel in Richtung Klimaneutralität droht zu scheitern. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag des OVID Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie und des Verbands der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft VGMS, unterstützt durch die Allianz Energieintensive Ernährungsindustrie.
Sie kommt zu einem klaren Befund: Ohne grundlegende Reformen bei Strompreisen, Netzentgelten und Investitionsanreizen bleibt die Dekarbonisierung der Branche ein theoretisches Ziel. Am Beispiel der Ölsaatenverarbeitung und Stärkeproduktion analysiert die Studie, warum selbst technologisch machbare Lösungen an der wirtschaftlichen Realität scheitern.
Hohe Energiekosten blockieren Investitionen
Die Forschenden des Fraunhofer ISI identifizieren drei zentrale Bremsklötze: zu hohe Strompreise, schleppender Netzausbau und fehlende Planungssicherheit. Besonders deutlich zeigt sich die wirtschaftliche Schieflage bei den Energiekosten. Elektrische Prozesswärme ist derzeit zwischen 56 und 80 Prozent teurer als die Nutzung von Erdgas in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Investitionen in klimafreundliche Technologien wie Wärmepumpen oder Elektrodenkessel rechnen sich deshalb nicht.
„Unsere Analyse zeigt eine signifikante Lücke zwischen den politischen Zielen zur Dekarbonisierung und der wirtschaftlichen Realität“, sagt Studienleiter Michael Haendel vom Fraunhofer ISI. „Ohne grundlegende Reformen bei Strompreis, Netzausbau und Anreizstrukturen werden die notwendigen privaten Investitionen in klimafreundliche Prozesse ausbleiben.“
Strompreise als Standortnachteil
Die Wirtschaftlichkeitsanalysen des Fraunhofer ISI verdeutlichen, wie stark die Kostenfrage die Transformation bremst. Während erdgasbetriebene KWK-Anlagen derzeit die günstigste Option bleiben, verursachen Wärmepumpen Mehrkosten von bis zu 80 Prozent. Erst bei einem Strompreis von rund 60 Euro pro Megawattstunde, also weniger als der Hälfte des heutigen Industrietarifs, könnten sie wirtschaftlich mit fossilen Systemen konkurrieren.
Auch die regulatorische Ausgestaltung ist ein Problem. Netzentgelte orientieren sich bislang an Anschlusskapazitäten statt am tatsächlichen Verbrauchsprofil, was flexible Fahrweisen verteuert statt sie zu fördern. Zudem fehlt es an langfristiger Investitionssicherheit. Häufige Änderungen im energiepolitischen Rahmen schrecken Betriebe ab, die in neue Technologien investieren wollen.
Das Ergebnis: Die Branche verliert an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, während klimafreundliche Produktionskonzepte auf der Strecke bleiben.
Industrie fordert Wirklichkeitsnähe und Planbarkeit
Die Verbände der energieintensiven Ernährungsindustrie fordern eine Energiepolitik, die auf „Wirklichkeitsnähe, Technologieoffenheit, Wettbewerbsfähigkeit und Planbarkeit“ setzt.
Jaana Kleinschmit von Lengefeld, Präsidentin des OVID-Verbands, appelliert: „Energiekosten, Bürokratie und Netz-Infrastrukturlücken behindern massiv unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und Klimaziele. Die Regierung muss jetzt handeln: Ein Industriestrompreis, praxistaugliche Netzentgelte und eine Nachfolgeregelung für den Spitzenausgleich Gas sind unabdingbar.“
Auch Julia Laudenbach, Vorständin im VGMS, mahnt zur ökonomischen Vernunft: „Nicht alles, was technisch machbar scheint, ist wirtschaftlich umsetzbar – manches sogar faktisch unmöglich. Die Stärkewirtschaft etwa zeigt, wie effizient die energieintensive Ernährungsindustrie bereits arbeitet. Kraft-Wärme-Kopplung mit über 90 Prozent Wirkungsgrad bleibt auf absehbare Zeit das Maß der Dinge. Die Ernährungsindustrie muss mitgedacht werden, wenn es um die Energiewende geht.“
Flexibilität ja, aber nicht um jeden Preis
Technologisch wäre die Elektrifizierung vieler Prozesse möglich. Hochtemperatur-Wärmepumpen bis 150 Grad Celsius und Elektrodenkessel könnten fossile Systeme ersetzen. Doch solange Strom deutlich teurer bleibt als Erdgas, sind solche Lösungen wirtschaftlich unattraktiv.
Hybridmodelle, etwa die kombinierte Nutzung von Gas und Strom, oder Speicherlösungen bieten Chancen, stoßen in der Praxis aber auf Hindernisse. Dazu zählen hohe Investitionskosten, begrenzte Flächen, langwierige Genehmigungsverfahren und unzureichende Netzkapazitäten. Das Ergebnis ist ein Investitionsstau, der selbst fortschrittliche Unternehmen lähmt.
Dabei wäre das Potenzial enorm. Das Fraunhofer ISI errechnet für die Branche ein theoretisches Lastverschiebungspotenzial von bis zu 1,5 Gigawatt. Das ist genug, um spürbare Beiträge zur Netzstabilisierung und zum Klimaschutz zu leisten.
Politik am Zug
Die Wissenschaftler fordern daher ein Bündel gezielter Maßnahmen:
- Beschleunigte Netzanschlüsse mit Priorität für emissionsarme Anlagen
- Reform der Netzentgelte, um Flexibilität zu belohnen statt zu bestrafen
- Einführung eines wettbewerbsfähigen Industriestrompreises
- Stabilität und Verlässlichkeit bei energiepolitischen Vorgaben
Nur so könne die Ernährungsindustrie ihren Beitrag zu den Klimazielen leisten, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Denn am Ende geht es nicht nur um die Energiewende, sondern um Versorgungssicherheit. Deutschland braucht eine Energiepolitik, die Industrie und Klimaschutz gemeinsam denkt. Nur so bleibt die Lebensmittelproduktion „Made in Germany“ auch in Zukunft gesichert.