Gerade im Lebensmittelrecht, das nahezu vollständig harmonisiert ist, bereitet die unterschiedliche Anwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten erhebliche Probleme. Neben dem sogenannten „gold plating“ durch zusätzliche nationale Vorgaben ist es vor allem die uneinheitliche Rechtsanwendung, die den Binnenmarkt faktisch aushöhlt. Die Europäische Kommission hat es in der Vergangenheit weitgehend aufgegeben, über Leitfäden oder FAQ-Dokumente für mehr Rechtssicherheit zu sorgen – ein Umstand, der nun spürbare Folgen für Unternehmen zeigt.
Eine aktuelle Mitgliederbefragung der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie zeigt deutlich: Die Unternehmen stehen vor sieben zentralen Herausforderungen – vom Recyclinglogo bis zum Allergenhinweis. Eine Reform ist überfällig.
1. Recycling- und Entsorgungskennzeichnungen: Das Dickicht der Logos
Frankreich verlangt das Triman-Logo, Italien spezifische Materialcodes, Spanien künftig eigene Sortierhinweise – die Vielfalt an nationalen Entsorgungskennzeichnungen führt dazu, dass Unternehmen für jedes Land eigene Verpackungen erstellen müssen. Der administrative und technische Aufwand ist enorm.
Zusätzlich erschweren unterschiedliche nationale Registrierungs- und Lizenzierungsverfahren – wie das deutsche Verpackungsregister LUCID – den Export. Gerade für Onlinehändler bedeutet das: Der Eintritt in kleinere Märkte lohnt sich wirtschaftlich nicht mehr. Es handelt sich hier nicht um Randphänomene, sondern um strukturelle Marktzugangshürden im Binnenmarkt.
2. Sprachvorgaben und Platzprobleme: Die analoge Sackgasse
Art. 15 der LMIV verpflichtet zur Kennzeichnung in der jeweiligen Landessprache. Für Unternehmen, die Produkte in mehrere EU-Staaten liefern, führt das zu Verpackungen mit bis zu 20 Sprachen – mit gravierenden Konsequenzen für Layout, Platz und Leserlichkeit.
Digitale Lösungen wie QR-Codes könnten Abhilfe schaffen, stoßen aber auf rechtliche Unsicherheit. Die digitale Information muss endlich als Chance begriffen werden, sowohl um die einheitliche Rechtsanwendung zu forcieren als auch um Kennzeichnung praxistauglicher zu machen. Was beim Wein längst funktioniert, sollte bei allen anderen Lebensmitteln ebenso ermöglicht werden.
3. Uneinheitliche Rechtsauslegung: Wenn Recht zur Auslegungssache wird
Ein Begriff, unterschiedliche Bewertungen: „Dinkel“ gilt laut LMIV als Weizen-Unterart, laut anderer EU-Verordnung aber als eigenständiges Getreide. Die Folge: In Deutschland muss „Dinkel (Weizen)“ deklariert werden, in Österreich nicht. Auch bei Jodsalz, der Allergenkennzeichnung oder der QUID-Doppelkennzeichnung bei Spirituosen zeigen sich massive Unterschiede in der nationalen Rechtsauslegung.
Die Europäische Kommission stellt bislang kaum abgestimmte Interpretationshilfen bereit. Das erschwert die Rechtsanwendung und erzeugt erhebliche Unsicherheiten. Es braucht ein unabhängiges, ständiges Auslegungsgremium auf EU-Ebene, das Fragen zur praktischen Umsetzung einheitlich und verbindlich klärt.
4. Nationale Sonderregeln: Wenn das Etikett zur Stolperfalle wird
Viele Mitgliedstaaten gehen eigene Wege. In der Slowakei muss bei Kaffee die Sorte angegeben werden, in Frankreich gelten nationale Zusatzstoffverbote, in Polen werden grafische Elemente wie das Tilde-Zeichen beanstandet, in Italien ist der Nutri-Score nur unter Auflagen erlaubt.
Diese Sondervorschriften machen einheitliche Etiketten faktisch unmöglich – was besonders bei kleineren Absatzmärkten dazu führt, dass Unternehmen auf eine Belieferung verzichten. Der Binnenmarkt wird so schleichend ausgehöhlt.
5. Anforderungen der PPWR: Große Ziele, wenig Umsetzbarkeit
Die Verpackungsverordnung PPWR bringt ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele – etwa Rezyklatquoten, Mehrwegvorgaben oder Recyclingfähigkeitsnachweise. Doch viele Vorgaben sind derzeit technisch nicht erfüllbar. Etwa: Es fehlen zugelassene recycelte Kunststoffe für den Lebensmittelkontakt.
Besonders heikel: Die Regelung zur Recyclingfähigkeit (Art. 6 Abs. 1 PPWR) ist bereits im Gesetz, aber ohne klaren Geltungsbeginn. Die Mitgliedstaaten fangen daher an, eigene Anforderungen zu stellen. Das führt zu Rechtsunsicherheit und verhindert langfristige Investitionen in Verpackungslösungen.
6. Meldepflichten und Bürokratie: Der Flickenteppich der Registrierung
Ob Verpackungsregister, Duale Systeme oder Meldungen zu Verpackungsmaterialien: Fast jedes Land hat eigene Vorgaben – oft ohne gegenseitige Anerkennung. Unternehmen müssen die gleichen Verpackungen mehrfach registrieren und melden, was nicht nur ineffizient, sondern auch kostspielig ist.
Ein Unternehmen beziffert den Aufwand für gesetzliche Verpackungsänderungen auf den Gegenwert einer Vollzeitstelle. Für viele KMU ist das schlicht nicht mehr leistbar. Eine zentrale, mehrsprachige EU-Plattform wäre ein dringend notwendiges Werkzeug zur Entlastung.
7. Allergenkennzeichnung: Uneinheitlich, verwirrend, riskant
Wie mit Spurenkennzeichnungen bei Allergenen umgegangen wird, ist in jedem Land anders. Die Niederlande etwa verlangen eine Risikoanalyse und Schwellenwerte, andere Staaten dulden freiwillige „kann enthalten“-Hinweise, wieder andere setzen auf „Zero Tolerance“.
Diese Unterschiede machen mehrsprachige Etiketten kaum möglich und verunsichern Verbraucher. Die Aufgabe, das zu regeln, existiert seit fast 15 Jahren – inzwischen sind sich Wirtschaft, Wissenschaft und Verbraucher weitgehend einig. Die EU-Kommission sollte diese offene Baustelle dringend angehen.
Fazit: Harmonisierung erforderlich
Die Rückmeldungen aus der Industrie sprechen eine klare Sprache: Der EU-Binnenmarkt für Lebensmittel funktioniert nur auf dem Papier. Die Vielzahl an teils unspezifizierten Vorgaben überfordert viele Akteure in der Praxis. Es besteht die berechtigte Sorge, dass etablierte Geschäftsmodelle infrage gestellt werden – eine Entwicklung, die den Mittelstand besonders hart trifft.
Die BVE fordert:
- Verschiebung des Inkrafttretens der EU-Verpackungsverordnung PPWR auf den 1. Januar 2027, damit Rechtsunsicherheiten geklärt werden können, nationale Umsetzungsgesetze vorliegen und bestehende Kreislaufwirtschaftssysteme stabil bleiben.
- Verpflichtende gegenseitige Anerkennung von Entsorgungs- und Recyclingkennzeichnungen, um funktionierende Lieferketten zu schützen und Marktverwerfungen zu vermeiden.
- Rechtssichere Integration digitaler Kennzeichnungslösungen, um Änderungen in der Rohstoffzusammensetzung pragmatisch zu handhaben.
- Einführung einer zentralen, mehrsprachigen EU-Informationsplattform, um Transparenz zu erhöhen, Bürokratie zu verringern und Overcompliance zu verhindern.