Wenn der Traum vom Schlaraffenland wahr wird – Segnungen und Herausforderungen der Gegenwart

Wir leben in einer Zeit, in der sich der alte Menschheitstraum vom Schlaraffenland vielerorts erfüllt hat: Lebensmittel sind jederzeit verfügbar, Auswahl und Vielfalt beinahe grenzenlos. Doch was bedeutet es, in einer Welt des Überflusses zu leben? Und wie verändert sich unser Verhältnis zu Genuss und Mäßigung? Dr. Daniel Kofahl, Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur – APEK, nimmt den Mythos vom Schlaraffenland zum Anlass, um über die Bedingungen eines guten Lebens im Zeitalter des Wohlstands nachzudenken – und über die Rolle von Konsumkompetenz in einer hochmodernen Ernährungskultur.

Vielfalt an Fast Food: Burger, Pommes, Pizza, Donuts, Süßigkeiten und SoftdrinkQuelle: beats_ / Adobe Stock

Das Land, in dem Milch und Honig fließt und einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, wo man ohne Anstrengung satt wird und alles Gute im Überfluss vorhanden ist – es ist ein alter Menschheitstraum. Übrigens nicht nur im deutschsprachigen Raum, wo unterschiedliche Autoren wie der Dichter Hans Sachs im 16. Jahrhundert oder die Gebrüder Grimm im 19. Jahrhundert den Mythos aufgriffen und literarisch populär machten. So tauchen dem Schlaraffenland ähnliche Sehnsuchtsorte auch in anderen kulturellen Kontexten auf, etwa als Wunschbaum Kalpavriksha in der indischen Mythologie oder das in den Bergen gelegene Land Penglai aus der chinesischen Mythologie, wo Unsterbliche in unendlichem Genuss schwelgen.

Die Vorstellung, dass irgendwo im Diesseits Orte des Lebens existieren, in denen Mangelsituationen aufgehoben werden und alle materiellen Wünsche in Erfüllung gehen, treibt die Menschen offenbar seit langem und global um.

Die Frage nach dem „guten Leben“

Schlaraffenland heißt, „alles und alles sofort“. Schlaraffenland, das ist ein Versprechen von Wohlbefinden, Genuss, Exzess, Entspannung, Sorglosigkeit.

Doch obwohl in vielen Geschichten vom Schlaraffenland und seinen kulturpluralistischen Äquivalenten die Dauerverfügbarkeit köstlicher Speisen und eine Präferenz zur Völlerei eine wichtige Rolle spielen – sozusagen ein nicht enden wollendes All-you-can-eat-Buffet –, handelt es sich nicht immer und auch nicht ausschließlich um solche Aspekte, um die Lebenswelten dort zu beschreiben. In manchen dieser Schlaraffenlandmythen oder Schlaraffenland ähnlichen Erzählungen geht es stärker als um materielle Dinge um immaterielle Wünsche und Ansinnen, die ein gelungenes, sorgenfreies Leben auszeichnen könnten, als da wären zum Beispiel Freiheit, Jugend und Sinnlichkeit zu nennen. Also Lebenskomponenten, die man sowohl haptisch als auch definitorisch nicht so einfach greifen kann wie zum Beispiel „gebratene Tauben“.

Es stellt sich somit die Frage, ob das Schlaraffenland zwingend ein Ort des dekadenten Müßiggangs sein muss, in dem man sich der niederen Triebbefriedigung hingibt? Ist der Mensch als das eigentlich „Symbole schaffende Tier“ an einem solchen Sehnsuchtsort dann eben nicht mehr „schaffend“ und „transzendental über sich hinausweisend tätig“, weil er stattdessen faul wird, und zwar wohlgenährt wäre, aber träge dahinvegetiert? Oder geht es um einen Ort, der von der nie so richtig aufgelösten Frage bestimmt wird, was „das gute Leben“ ausmacht, also um das Verhältnis von Mangel und Überfluss, von Exzess und Askese sowie von Lusttrieb und Selbstdisziplin?

Das erste Gossensche Gesetz

Zu solchen Situationen – in denen man im Stil des Schlaraffenlands unbegrenzten Zugriff auf ein eigentlich begehrtes Gut hat, man sich also in einer Art „Genussüberfluss“ befindet – gibt es in den Wirtschaftswissenschaften sogar einen eigenen theoretischen Ansatz: das sogenannte Erste Gossensche Gesetz.

Es ist die Theorie vom Gratifikationsverfall eines Gutes, also dem abnehmenden Grenznutzen. Hierbei wird beschrieben, wie es zu einem Übersättigungseffekt kommt, je mehr Einheiten eines anfänglich begehrten Gutes man in zu kurzen Zeiteinheiten konsumiert.

Ein Beispiel: Das erste kühle Bier an einem heißen Sommertag schmeckt wunderbar erfrischend, das zweite ist auch ganz gut, wenngleich man es schon langsamer trinkt. Das dritte Bier ist noch okay und das vierte trinkt man nur noch, weil man sowieso schon dabei ist. Nach dem fünften Glas übergibt man sich und schwört, nie wieder Bier zu trinken. Manchmal ist „weniger“ tatsächlich „mehr“.

Also, wie steht es dann um das Leben im Schlaraffenland? Kann Genuss bei einem Überschuss an guten Optionen ewig andauern? Wie verändert es das Genusserleben, wenn es einen Mangel an asketischen Phasen und Selbstdisziplin gibt?

Supermärkte und Küchen als Entscheidungsorte

Schaut man sich in der Gegenwart um, so könnte man verglichen mit der langen Epoche der Menschheitsgeschichte und den vielfachen Episoden von Hunger und Mangelernährung eigentlich erleichtert aufatmen. Die Verfügbarkeit von guten und sicheren Lebensmitteln ist so gut wie nie zuvor und im Großen und Ganzen ist auch die durchgehende Versorgung mit diesen gewährleistet (wenn man mal ohne Dramatisierung darüber hinwegsieht, dass an einem Samstagabend kurz vor Geschäftsschluss vielleicht keine Bananen mehr im Regal liegen und man sich bis Montagmorgen wird gedulden müssen). In immer mehr Küchen der Welt kann ausgewählt und entschieden werden, was man wann und wie zubereiten und verzehren möchte, ohne sich von Ort und Zeit den Speiseplan wie einst bis ins kleinste Detail diktierten lassen zu müssen. Das sind eigentlich Zustände, welche wohl die meisten Menschen der Weltgeschichte als quasi-paradiesisch bzw. quasi-schlaraffenländisch beschrieben hätten. Selbst dann, wenn das Haushaltsbudget nicht jeden Tag Champagner oder den Besuch im Fine-Dining-Restaurant erlaubt.

Doch der alimentäre Teufel liegt, wie man so schön sagt, natürlich im Detail. Es ist nicht zu bestreiten, dass es eine gewisse Fallzahl von Konsumentinnen und Konsumenten gibt, die von dem Überangebot von Lebensmitteln geradezu überfordert sind. Dass kann bei den einen zu einer dem Wohlbefinden letztlich abträglichen Dauervöllerei führen und bei anderen zu einer ebenso unschönen Furcht vor eigentlich schönen Versuchungen und dem Erleben von Genuss.

Während die Mehrheit der Konsumentinnen und Konsumenten die Errungenschaften hochmoderne Lebensmittelproduktion zu schätzen weiß und freilich auch die immer weiter fortschreitende Weiterentwicklung, Optimierung und Verbesserung derselben konstruktiv mitbegleitet, muss – wie meistens in der realen Welt – anerkannt werden, dass dort wo Licht ist, auch Schatten zu finden ist.

Wege durch das hochmoderne Schlaraffenland

Um hierauf zu reagieren, bieten sich verschiedene Optionen an, um den Menschen auf seinem Weg durch das hochmoderne Schlaraffenland zu begleiten.

Neben dem marktwirtschaftlichen Preismechanismus, der dafür Sorge trägt, dass außeralltägliche und seltene bzw. aufwendig herzustellende Produkte keinem inflationären Genussverfall unterliegen, zählen dazu selbstverständlich Produktinnovationen. Hier hat sich in den letzten Jahren bereits einiges bewegt, wenn sich Lebensmittelproduzenten in Rückkopplung mit der Kaufbereitschaft der Konsumentinnen und Konsumenten bei der gesundheitlichen und geschmacklichen Optimierung ihrer Produkte hervortun.

Daran anschließend bleibt eine umfassende Ernährungsbildung der Bevölkerung eine extrem wichtige Variable in einer demokratischen Marktwirtschaft. Wenn man das Selbstbestimmungs- und auch das Selbsternährungsrecht von Menschen ernst nimmt und keine Kultur paternalistisch entmündigter Konsumentinnen und Konsumenten möchte, dann führt kein Weg daran vorbei, auch in Zukunft plurales Ernährungswissen zu verbreiten und kulinarische Bildungsprojekte voranzutreiben. Wenn diese Bildung gelingt, dann können Konsumentinnen und Konsumenten einerseits einer breiten Angebotspalette verantwortungsbewusst begegnen. Sie können entscheiden, welche Angebote und gelegentlichen Versuchungen sie annehmen und genießen wollen, und welchen sie selbstdiszipliniert widerstehen möchten. Sie können darüber hinaus zudem als kompetente Konsumentinnen und Konsumenten den Organisatoren des alimentären Schlaraffenlands realistische Rückmeldungen über das Angebot geben, ohne sich dabei von Angst- und Moralunternehmern treiben und vereinnahmen zu lassen. Denn diese leben zwar ebenfalls ganz hervorragend im hochmodernen Schlaraffenland, verfolgen jedoch ihre eigene wohlstands- und genussfeindliche Agenda. Doch das ist eine andere Geschichte.

Portrait von Dr. Daniel Kofahl.Quelle: Daniel Kofahl
Dr Daniel Kofahl, Diplom-Soziologe, hat Konsum-, Kommunikations-, Medien- und Kultursoziologie mit einem Schwerpunkt in Volkswirtschaft an der Universität Trier studiert.