175 Jahre Zuckerverband – von Rüben, Regionalität und Resilienz

Zucker ist mehr als nur süß – er steht für regionale Wertschöpfung, Innovation und ein Stück Industriekultur. Zum 175. Jubiläum des Vereins der Zuckerindustrie blickt der Vorsitzende Dr. Lars Gorissen nicht nur zurück, sondern vor allem nach vorn: auf neue Herausforderungen beim Zuckerrübenanbau, die Bedeutung einer faktenbasierten Ernährungspolitik und die Vision einer klimaneutralen Zuckerproduktion. Ein Gespräch über Rüben, Resilienz– und die Zukunft einer traditionsreichen Branche.

Ein Mann auf einem Anbaufeld hält eine große Zuckerrübe in die Kamera.Quelle: Verein der Zuckerindustrie

Herr Dr. Gorissen, der Verein der Zuckerindustrie feiert sein 175-jähriges Jubiläum und ist damit der älteste Industrieverband Deutschlands. Worauf blicken sie besonders stolz zurück?

Dr. Gorissen: Ein hohes Alter ist für sich genommen noch kein Verdienst. Die wahre Stärke eines Verbandes zeigt sich in seiner Fähigkeit, die Interessen seiner Mitglieder wirkungsvoll zu vertreten. Wandel, Anpassungsfähigkeit und Reformbereitschaft waren nötig, um aus einer traditionsreichen Institution eine moderne, zukunftsgerichtete Interessenvertretung zu formen.

Wenn ein Verband über 175 Jahre hinweg Bestand hat und zugleich relevant bleibt, ist das Ausdruck einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte. Von den Anfängen der industriellen Revolution bis hin zum Zeitalter der Künstlichen Intelligenz hat sich vieles gewandelt – doch eines ist geblieben: die Leidenschaft, mit der unsere Unternehmen aus dem Naturprodukt Rübe Zucker gewinnen, der weit mehr ist als nur süß!

Dabei steht der Anbau der Zuckerrübe seit einigen Jahren vor einer großen Herausforderung: Die schnelle Ausbreitung der Schilf-Glasflügelzikade verursacht erhebliche Ertrags- und Qualitätsverluste. Gibt es bereits Lösungsansätze in der Zuckerwirtschaft?

Dr. Gorissen: Gemeinsam mit den Rübenanbauern verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz. So investieren wir erhebliche Mittel und Energie in Forschung und Entwicklung, um Methoden, Technologien und Sorten zu fördern, die den Pflanzenschutzmitteleinsatz soweit wie möglich reduzieren und ihn gezielter und effizienter machen. Unser Institut für Zuckerrübenforschung (IfZ) liefert die wissenschaftliche Expertise. In Modellregionen und Feldversuchen testen wir unterschiedliche Lösungsansätze und geben unser Wissen aktiv an die landwirtschaftliche Praxis weiter.

Doch eines steht fest: Die Zikade stellt uns vor erhebliche Herausforderungen. Wenn Lagerfähigkeit und Verarbeitungsqualität der Rüben stark abnehmen, hat dies Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Betrieb der Zuckerfabriken. Um die Zuckerrübe zu schützen, sind wir auf die Unterstützung der Politik angewiesen.


Welche Hilfe erhalten Sie vonseiten der Politik, um die Ausbreitung und die damit einhergehenden Schäden der Zikade zu minimieren?

Dr. Gorissen: Im Januar 2025 fand im Bundeslandwirtschaftsministerium erstmals ein Runder Tisch mit allen relevanten Stakeholdern statt – das Problem ist damit erkannt und auf höchster Ebene angekommen. Wenig später folgte eine Ausnahmegenehmigung für den Einsatz bestimmter Pflanzenschutzmittel. Doch Ausnahmen allein reichen nicht aus. Was es jetzt braucht, sind reguläre Zulassungen wirksamer Insektizide, eine gezielte staatliche Forschungsförderung sowie Anpassungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, um praxisnahe Maßnahmen – insbesondere in der Fruchtfolge – einfacher umsetzen zu können. Nur ein umfassend koordiniertes Maßnahmenpaket kann dazu beitragen, unsere wertvollen Kulturpflanzen dauerhaft zu schützen. Andernfalls ist die langfristige Versorgung mit regional erzeugten Lebensmitteln ernsthaft gefährdet.

Stichwort „regional erzeugt“: Der EU-Zuckermarkt ist einer der offensten Märkte der Welt. Etwa 100 Länder können derzeit entweder zollfrei oder zum günstigeren Zollsatz ihren Zucker in die EU einführen. Was sind die Folgen für die deutsche Zuckerwirtschaft und wie kann ihre Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden?

Dr. Gorissen: Der Weltzuckermarkt wird von wenigen Akteuren dominiert. Diese verzerren durch umfangreiche staatliche Subventionen den internationalen Handel erheblich. Zudem liegen die ökologischen und sozialen Standards in vielen zuckerproduzierenden Ländern deutlich unter dem Niveau der Europäischen Union. Die hohen Standards, die für die europäische Zuckerproduktion gelten, müssen bei den Verhandlungen über Freihandelsabkommen konsequent gewahrt werden. Angebote zur Marktöffnung für Zucker seitens der EU bedrohen den fairen Wettbewerb. Das gefährdet die Zukunft unserer heimischen Zuckerrübe – einer wertvollen Kulturpflanze mit regionaler Bedeutung.

Dr. Lars Gorissen, Vorstand des Vereins der Zuckerindustrie.Quelle: Verein der Zuckerindustrie
VdZ-Vorsitzender Dr. Lars Gorissen

Die Ernährungswirtschaft wird von Medien, NGOs und Influencern häufig ins schlechte Licht gerückt – auch die Zuckerindustrie wird immer wieder zur Zielscheibe von Ernährungsmythen. Wie gehen die Zuckerverbände mit der öffentlichen Diskriminierung von Zucker um?

Dr. Gorissen: In den vergangenen Jahren wurde im politischen Diskurs wiederholt über Sondersteuern und Werbeverbote für Süßwaren diskutiert. Unsere Antwort darauf ist faktenbasierte Aufklärung. Ein Beispiel: In Ländern, die Zuckersteuern eingeführt haben, ist der Anteil übergewichtiger Menschen dennoch weiter gestiegen.

Übergewicht ist eine komplexe Zivilisationskrankheit, die ganzheitliche Lösungen erfordert – von Bildung über Bewegung bis hin zu ausgewogener Ernährung. Einseitige Maßnahmen wie Steuern greifen zu kurz. Denn klar ist: Eine Steuer macht noch niemanden schlanker. Denn für einen gesunden Lebensstil braucht es eine ausgeglichene Kalorienbilanz und eine vielfältige Ernährung. Dazu gehört auch Rübenzucker.

Was erhoffen Sie sich von der Ernährungspolitik der neuen Bundesregierung?

Dr. Gorissen: Landwirtschaftsminister Alois Rainer hat sich für eine sachlichere, ideologiefreie Ernährungsdebatte ausgesprochen – ein Signal, das wir begrüßen. Im Koalitionsvertrag finden sich wichtige Leitlinien: praxistaugliche Lösungen, Offenheit für Innovationen sowie der Schutz von Umwelt und Klima in Einklang mit der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft. Wir gehen davon aus, dass diesen Worten nun auch Taten folgen.

Welche Themen werden in Bezug auf Klimaneutralität und Energieversorgung in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle für die Zuckerindustrie spielen?

Dr. Gorissen: Die Roadmap Studie zeigt: Die Zuckerindustrie kann bis 2045 klimaneutral produzieren. Der Schlüssel liegt in der nachhaltigen Nutzung unserer Reststoffe – der Rübenschnitzel, die im Zuckerherstellungsprozess anfallen. Als Branche investieren wir bereits jetzt in diese klimafreundliche Zukunft. Die politischen Rahmenbedingungen müssen Planbarkeit und Verlässlichkeit geben, und sie müssen diese Investitionen auch ökonomisch realisierbar darstellen.

Vielen Dank für das Interview!